Bewertung
Joe Wright

Anna Karenina

"You can't ask why about love!"

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Inhalt

Angesiedelt im Russland der 1870er Jahre ist Anna (Keira Knightley) mit dem rational veranlagten und immer etwas kühl wirkenden Regierungsbeamten Alexei Karenin (Jude Law) verheiratet und hat mit diesem einen Sohn, den sie tief und innig liebt. Als ihr Bruder Oblonsky (Matthew Macfadyen) aufgrund einer familiären Krise den Rat seiner Schwester braucht, reist Anna von St. Petersburg nach Moskau, um dort Oblonskys Ehefrau Dolly (Kelly Macdonald) zu trösten, die unter der Untreue ihres Mannes zu leiden hat. Dollys jüngere Schwester Kitty (Alicia Vikander) bekommt zur gleichen Zeit einen Heiratsantrag vom jungen Gutsbesitzer Levin (Domhnall Gleason), wird aber von dem jungen Mädchen abgewiesen, da dieses eher ein Auge auf den akkuraten Offizier Vronsky (Aaron Taylor-Johnson) geworfen hat. Als Vronsky jedoch die in Moskau weilende Anna kennenlernt, beginnt er schnell eine brennende Leidenschaft für die verheiratete Frau zu entwickeln. Eine Leidenschaft, der sich auch Anna irgendwann nicht mehr entziehen kann und die allen gesellschaftlichen Konventionen dieser Zeit vollständig entgegensteht.

Kritik

Der in den Jahren 1877 und 1878 veröffentlichte Gesellschaftsroman "Anna Karenina" gilt auch heute noch als eines der bedeutendsten Werke der russischen Literaturgeschichte und als Leo Tolstois vielleicht bestes Werk. Die Geschichte der Ehebrecherin Anna Karenina wurde dementsprechend auch schon häufig in verschiedenen Formen filmisch aufbereitet. Nun versucht sich Kostümfilmspezialist Joe Wright an der insgesamt elften Verfilmung des historischen Stoffes und zaubert ein berauschendes audio-visuelles Spektakel auf die Leinwand, welches mit einem einzigartigen inszenatorischen Stil, einer ungemein eindringlich spielenden Hauptdarstellerin und einem vielschichtigen thematischen Kern eine sehr reichhaltige filmische Erfahrung darstellt.

Nach zwei Kurzfilmen und einigen Arbeiten fürs britische Fernsehen gelang dem in London geborenen Regisseur mit seiner filmischen Aufbereitung des Jane-Austen-Klassikers "Stolz und Vorurteil" ein respektables Regiedebüt, welches ihn zudem mit der Schauspielerin Keira Knightley erstmals zusammenführte. Es folgten mit der zutiefst bewegenden und virtuos inszenierten Romanverfilmung "Abbitte" und dem Schizophrenie-Drama "Der Solist" zwei ganz unterschiedliche Filme, die die Wandlungsfähigkeit des aufstrebenden Regisseurs unterstrichen. Zuletzt überraschte Wright mit dem Actiondrama "Wer ist Hanna?" erneut das Publikum und zeigte, dass er neben berauschenden Kostümfilmen auch das Actiongenre auf den Kopf stellen kann. Nun kehrt er mit "Anna Karenina" oberflächlich betrachtet zu seinen Wurzeln zurück und inszeniert erneut einen historischen Stoff mit Keira Knightley in der Hauptrolle. Doch formal und in seinem inszenatorischen Stil schafft Wright hier erneut etwas ganz Neues, Einzigartiges, den normalen Sehgewohnheiten entgegensteuerndes und zelebriert damit Kino in seiner Reinform.

Der erzählerische Kniff, die Elemente des Theaters mit denen des Films zu vermengen, mutet zunächst etwas merkwürdig an, geht im weiteren Verlauf des Films aber wunderbar auf, ist dieser inszenatorische Trick nicht nur reine Spielerei, sondern ein stimmiges Mittel, den thematischen Kern des Films auf einer weiteren Ebene zu unterstreichen. Der amerikanische Soziologie Erving Goffman beschrieb in seiner wegweisenden soziologischen Abhandlung "Wir alle spielen Theater" die tief inne liegenden Selbstdarstellungstendenzen des menschlichen Individuums und Wright bereitet dies hier auf sehr plastische Art und Weise auf: Der russische Adel zu dieser Zeit war im Grunde ein großer Maskenball, in der jeder nur die von ihm erwartete Rolle so überzeugend wie möglich zu verkörpern versuchte, um nur nicht aus den angesehenen Kreisen herauszufallen. Wenn sich dann aber einer einen Fehltritt erlaubte und seine Rolle nicht erwartungsgemäß ausfüllte, wurde er von seinen Mitmenschen gnadenlos fallen gelassen. Loyalität und Vergebung waren hohle Begriffe ohne Bedeutung. Wenn sich die Figuren in Wrights Film dann größtenteils auf einer alten Theaterbühne begegnen, ist dies nur folgerichtig.

Die zentralen Figuren werden von Wright mit einer innigen Präzision gezeichnet, die aus fast jedem Charakter ein innerlich zerrissenes, ambivalentes und zutiefst menschliches Individuum machen, welches sich im Spannungsfeld zwischen individueller Selbstbefreiung und gesellschaftlichen Konventionsdruck befindet. Anna wird zu Anfang als liebende, fürsorgliche Mutter gezeichnet, die zudem versucht, die gesellschaftlichen Erwartungen und ihre Aufgabe der ehrbaren Ehefrau zu erfüllen. Doch mit der Begegnung mit dem Grafen Vronskys lernt sie die Liebe kennen, welcher in diesen gesellschaftlichen Zeiten kein Platz eingeräumt wird. In einer berauschend-mitreißenden Sequenz, die auf einem pompösen Ball spielt, bricht sich die Liebe ihren Bann und Anna und Vronsky tanzen die ganze Welt und damit auch die gesellschaftlichen Strukturen ausblendend einen verloren Tanz, der vielleicht den Höhepunkt ihres Liebesglücks darstellt. Wright entfacht hier mit seinem bemerkenswerten Inszenierungsstil eine ungeheure Dynamik und lässt nach und nach alle anwesenden Ballgäste verschwinden, bis nur noch die zwei Verliebten zu sehen sind, die sich von den gesellschaftlichen Konventionen zu befreien versuchen, schlussendlich aber doch zwangsläufig daran zugrunde gehen müssen.

Die Liebe zwischen Vronsky und Anna bildet den Kern und den erzählerischen Rahmen des Films, wobei es Wright nicht nur um die Schilderung einer unmöglichen Liebe geht, sondern vielmehr um die gesellschaftspolitischen Rahmungen dieser historischen Epoche, die der romantischen Liebe und der persönlichen Selbstentfaltung keine Chance lassen. So ist auch Annas Ehemann Alexei, der von einem stark aufspielenden Jude Law verkörpert wird, kein wirklicher Unsympath, sondern ebenfalls ein Opfer seiner Zeit und der gesellschaftlichen Rollenerwartungen, die an ihn herangetragen werden. Er kann sich aus seiner Rolle nicht befreien und seiner Frau deshalb auch nicht die Liebe und Zuneigung schenken, nach der sie sich so sehr sehnt.

Neben diesen so intensiven und vielschichtigen, nie den leichtesten Weg gehenden Charakterzeichnungen, ist der wohl größte Triumph von Wrights Film die epochale inszenatorische Brillanz, in der er durch die Schnitttechnik, die Kameraarbeit und die bis ins kleinste Detail prachtvoll ausgestattete Kulisse eine wuchtige Dynamik entfaltet, die einen direkt hineinwirft in diese intrigengeleitete Zeit und einen nicht nur einmal zum Staunen bringt. Hier zelebriert Wright nichts anderes, als Kino in einer reinen Form: überdimensionale, wunderschöne, kunstvolle Bilder, bei denen fast jede Einstellung ein kleines Kunstwerk für sich ist, übergroße Gefühle und Gesten, Herz und Leidenschaft. Das Kino hat die Fähigkeit, die Realität zu überhöhen, und Wright tut hier genau das und zeigt damit, was heute im modernen Kino alles noch möglich ist. Dass er dabei von einer abermals groß aufspielenden, alle Facetten dieser zerrissenen und ambivalenten Persönlichkeit erfassenden Keira Knightley unterstützt wird, ist ein Glücksfall und unterstreicht die Stärke dieses besonderen Filmes nur noch weiter.

Fazit

Joe Wright gelingt mit einer Interpretation des Tolstoi-Klassikers "Anna Karenina" ein pompöses Bildspektakel von ungeahnter inszenatorischer Kraft, welches die auch heute noch aktuellen Themen von gesellschaftlichem Anpassungsdruck und individueller Befreiung in eine mutige und ungemein faszinierende Form gießt, die lange nachwirken wird: ganz großes Kino, welches zu seiner Ursprungsform zurück findet.

Moritz Stock - myFanbase
11.12.2012

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