Bewertung

Review: #1.11 Die Blauen

Foto: Rachael Taylor, Marvel's Jessica Jones  - Copyright: Myles Aronowitz/Netflix
Rachael Taylor, Marvel's Jessica Jones
© Myles Aronowitz/Netflix

Die vorangegangene Folge hat alles auf den finalen Akt, auf den ungefilterten Zweikampf Jessica vs. Kilgrave zugeschnitten (makaberer Weise im wahrsten Sinne des Wortes, RIP Hope), umso erstaunlicher ist es, dass in dieser Episode komplett auf Kilgraves Anwesenheit verzichtet wird. Das kann doch eigentlich nur eines bedeuten: Fillerepisode. Fast jede Serie hat in mindestens einer ihrer Staffeln eine solche Füll(er)episode, die das Tempo drosselt und übriggebliebene Zeit totschlägt - man will ja schließlich nicht versehentlich nach 12 Episoden schon fertig sein - und einige der vielbeschäftigten Hauptdarsteller entlastet. Warum sollte nicht auch "Jessica Jones" auf dieses Mittel zurückgreifen, schließlich hatte die Serie bisher einen enormen Grad an ungebremster Intensität. Wenn dies also tatsächlich die "Jessica Jones"-Version einer klassischen Fillerpisode ist, dann muss ich sagen: Hut ab! So gut gefüllt mit starken Szenen sind Füllerepisoden äußerst selten.

Im Fokus dieser Folge steht eine Beziehung, ohne die diese Serie niemals so gut funktionieren würde. Die Rede ist natürlich von Jessica und Trish. Wir erfahren durch Flashbacks, wie sie zueinander gefunden haben. Als Teenager waren sie beide auf ihre eigene Weise etwas Besonderes und auf ihre eigene Weise einsam. Jessica wurde nach dem Tod ihrer Eltern und ihres kleinen Bruders von Trishs Mutter nur zu Publicity-Zwecken adoptiert (etwas, das man ja vielen Hollywoodstars vorwirft, die Kinder aus zumeist armen Ländern adoptieren) und entdeckte mit der Zeit ihre übermenschliche Stärke, welche sie noch mehr von der normalen Welt isoliert hat. Trish hingegen war ein Kinderstar mit einer eigenen Fernsehserie und der unfreiwillige Goldesel ihrer Mutter. Trish wurde regelrecht zur Karriere geprügelt ("I got hit with a People's Choice Award") und sollte sich nach dem Willen ihrer überergeizigen Mom komplett in ihre Fernsehrolle Patsy verwandeln, um quasi 24 Stunden am Tag ein Erfolgsprodukt zu sein. In dieser Situation haben sich Jessica und Trish zusammengetan und einander beigestanden und beschützt. Sie wurden eine Familie füreinander.

Trishs Kindheit ist natürlich ein heftiger Seitenhieb in Richtung Traumfabrik und lässt uns an die vielen außer Kontrolle geratenen Ex-Kinderstars denken, die mit Drogen,- Alkohol und Sexeskapaden die Klatschblätter füllen. Kinder sollten Kinder sein dürfen. Wenn ihre eigenen Eltern ihnen das verwehren und sie ausnutzen, ist das tragisch und macht wütend. Für gewöhnlich erhalten Kinder in einer solchen Lage keine Unterstützung durch eine Adoptivschwester mit Superkräften, die fiese Moms quer durch das Haus werfen kann. Trish hatte dieses außergewöhnliche Glück - und Jessica hatte das Glück, nicht allein mit ihrer Andersartigkeit sein zu müssen und jemanden an ihrer Seite zu haben, der sich für sie stark macht.

Wie gut sich Trish und Jessica ergänzen, zeigt die Szene in der Leichenhalle. Während Jessica bei dem Leichenbestatter abblitzt, kann Trish ihn erfolgreich bestechen, indem sie ihm eine Restaurantreservierung besorgt, an die er selbst nie herangekommen wäre. Trish gleicht in diesem Moment das aus, was Jessica fehlt: Sozialkompetenz. Trish kann mit Menschen umgehen, sie hat Kontakte, wird von vielen gemocht und bewundert. Sie ist natürlich kein Megastar (zum Leidwesen ihrer Mutter), weil sie keiner sein will, aber sie verfügt über einen gewissen Einfluss. In machen Situationen kann eine solche Popularität eine Superkraft sein, die verschlossene Türen öffnet.

Jessica braucht Trish in dieser Folge mehr denn je. Nach Hopes Tod und den Erlebnissen mit Kilgrave ist Jessica emotional angeschlagen. Sie will Kilgrave unbedingt finden, um ihn endlich zu töten, und mutet sich zu viel zu. Dass sie dann auch noch von einem Auto angefahren wird, was ein normaler Mensch nicht oder nur mit einem sehr langen Urlaub auf der Intensivstation überlebt hätte, hilft auch nicht dabei, ihre Form zu verbessern. Jessica ist nicht wie Luke unverwundbar, aber sie hält mehr aus als unserereins. Ihr Körper kompensiert Verletzungen irgendwie, wird damit fertig, auch wenn es wehtut. Diese außergewöhnliche Anpassung ist vielleicht die Erklärung für ihre Immunität gegen Kilgrave, die sie ja auch nicht sofort entwickelt hat, sondern erst nach einer gewissen Zeit.

Nach der unerfreulichen Begegnung mit dem Auto bleibt Jessica nicht die Zeit, sich zu erholen, denn sie bekommt es mit einem völlig durchgedrehten Will zu tun. Dank der Wunderpillen schießt sein Adrenalin durch die Decke und macht ihn ebenso stark und schmerzunempfindlich wie irrational und gewalttäig. Der Kampf zwischen ihm und Jessica, bei dem sie Jessicas Wohnung kräftig auseinandernehmen, ist eine erstklassige, da dreckige und brutale Actionsequenz, die noch dramatischer und spannender wird, als Trish ebenfalls die Pillen schluckt, um Jessica zu beschützen. Da fliegen die Fetzen und das ganz ohne Kilgraves direkte Beteiligung.

Für einen Moment schlüpft Trish also in Jessicas Schuhe, für einen Moment erfährt Trish, wie es ist, außergewöhnlich stark zu sein. Es ist jedoch wirklich nur ein Moment. Danach bricht Trish zusammen, ihr Herz droht zu versagen. Jessicas verzweifelte Angst um ihre beste Freundin und ihre Erleichterung als Trish gerettet werden kann, springen mühelos auf die Zuschauer über. Nach dieser Folge kann man wirklich keine Zweifel mehr daran haben, wie eng und wichtig das Verhältnis zwischen Jessica und Trish ist. Für mich sind die beiden eindeutig Schwestern und als solche werde ich sie auch in Zukunft bezeichnen.

Wills genaues Schicksal bleibt zunächst ungeklärt, aber es ist doch sehr unwahrscheinlich, dass er nicht überlebt hat. Mit ihm und der militärischen Geheimorganisation in seinem Rücken plant die Marvel-Netflix-Connection sicher noch etwas. Als Held einer eigenen Serie kann ich mir Will allerdings momentan eher weniger vorstellen oder anders gesagt kann ich mir schwer vorstellen, dass mir eine Serie über ihn gefallen würde. Er hat sich mit seinen Aktionen nicht unbedingt beliebt gemacht und für meinen Geschmack ist er ein bisschen zu oft nicht Herr seiner Sinne. Dass er nach den Erfahrungen mit Kilgrave gleich mal persönlichkeitsverändernde Pillen in Überdosierung schluckt, disqualifiziert ihn für mich als guten und smarten Typen.

Apropos Typ. Am Ende dieser Folge gibt es ein Wiedersehen mit Luke, dem seine Bar um die Ohren fliegt. Offenbar will Kilgrave nach Hopes Tod nun Luke als neue Schachfigur im Spiel aufstellen, um es Jessica zu erschweren, die richtigen Züge zu machen. Luke ist für ein Bauernopfer allerdings etwas zu feuerfest.

Über den Charakter Luke und sein Potential für eine eigene Serie habe ich mir noch keine richtige Meinung gebildet. Ich tendiere allerdings dazu, ihn nur im Zusammenspiel mit Jessica interessant zu finden, denn die überstarke Frau mit dem Talent, in zerstörerische Situationen zu geraten, und der unzerstörbare Mann mit dem gebrochenen Herzen ergeben schon eine spektakuläre Kombination. Ohne das erscheint Luke eher als stereotypischer einsamer Reiter, der auf seinem Motorrad durch die Gegend fährt, um hier und da mal ein paar fiese Typen zu vermöbeln und Prinzessinnen in Not zu retten. Grundsätzlich ist aber sowohl Marvel als auch Netflix zuzutrauen, dass sie um Luke eine überzeugende Serie aufbauen.

Bis dahin freuen wir uns erst einmal auf die letzten beiden Episoden der ersten Staffel von "Jessica Jones", einer Serie, die bisher absolut überzeugt, selbst mit einer Fillerepisode.

Maret Hosemann - myFanbase

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