Bewertung

Review: #1.10 1000 Schnitte

Foto: Carrie-Anne Moss, Marvel's Jessica Jones  - Copyright: Myles Aronowitz/Netflix
Carrie-Anne Moss, Marvel's Jessica Jones
© Myles Aronowitz/Netflix

1000 metaphorische Schnitte hat Jeri ihrer Frau Wendy während ihrer Ehe zugefügt, mit 28 realen Schnitten rächt sich die unter Kilgraves Kontrolle stehende Wendy dafür an Jeri, ehe sie gestoppt wird, doch es ist ein einzelner Schnitt, der das Bild verändert und uns am Ende dieser Folge mit einer seltsamen Mischung aus Wut, Trauer und Aufbruchsstimmung zurücklässt: Hopes Schnitt durch ihre eigene Kehle. Mit ihrem Selbstmord nimmt sich Hope selbst aus der Gleichung und vereinfacht diese damit deutlich. Was vorher Algebra für Fortgeschrittene war, wird jetzt zu einer simplen Plus/Minus-Rechnung. Keine Versuche mehr, Kilgraves Fähigkeiten auf Video zu dokumentieren, keine Radiointerviews und keine Angebote der Staatsanwaltschaft mehr. Jetzt geht es für Jessica wirklich nur noch darum, Kilgrave zu töten. Zur Zurückhaltung gibt es keinen Grund mehr.

Zu Beginn dieser Folge ist noch Kilgrave der mit den Schnitten. Blutend flieht er zu Jeri, die sich - nicht allzu überraschend - als diejenige erweist, die seine Zelle manipuliert und ihm damit zur Flucht verholfen hat. Dass dies ein schrecklicher Fehler war, lernt sie sehr schnell und doch zu spät. Ihre Eitelkeit und Selbstsucht haben sie auf Kilgraves Versprechungen hereinfallen lassen. Sie lebt in der grundsätzlichen Überzeugung, alles so regeln zu können, dass es sich für sie am Ende gut ausnimmt. Wen sie bestechen muss, den besticht sie, wem sie drohen muss, dem droht sie. Sie will immer die Kontrolle haben, natürlich auch über ihre Scheidung. Kilgrave sollte ihr diese Kontrolle geben, doch sie hat ihn dabei völlig unterschätzt und Jessicas Warnungen nicht für voll genommen. Das Ergebnis ist ebenso tragisch wie blutig. Wendy stirbt und Jeris Geliebte Pam landet hinter Gittern. Von den Schnittwunden, die Wendy ihr beigebracht hat, wird sich Jeri erholen, doch ihr Privatleben und womöglich auch ihre Karriere liegen in Trümmern.

Man musste sich im Laufe der Staffel das eine oder andere Mal fragen, was Jeris Ehedrama überhaupt in der Serie zu suchen hat und was wir mit diesen Szenen anfangen sollen, nun erkennen wir diese Nebenstory als ein Baustein im Gesamtgefüge. Kilgraves Gefährlichkeit beruht nicht nur darauf, dass er anderen seinen Willen aufzwingen kann, er kann Menschen auch dazu verführen, dass sie von seiner Macht profitieren wollen, dass sie das Nützliche für sich selbst in seinen Kräften sehen. Jeri und Kilgrave ist die klassische Geschichte vom Pakt mit dem Teufel. Der Mensch lässt sich verführen, weil er an seinen schwächsten Punkten getroffen wird, und der Teufel will ausschließlich seine eigenen Bedürfnisse befriedigen. Das kann nur an einem Ort enden: in der Hölle. Zieht man eine der bekanntesten Teufelspakt-Erzählungen überhaupt zum Vergleich heran, - Goethes "Faust" -, könnte man Pam fast als moderne Version von Gretchen betrachten, zumindest landen beide Frauen am Ende im Gefängnis.

Von Kilgraves Vater Albert erfahren wir etwas sehr Wesentliches über die Kräfte seines Sohnes: Kilgrave setzt ein Virus frei, das die Menschen befällt und sie dazu zwingt, seinen Befehlen zu folgen. Das ist interessant, da es bisher so schien, als sei Kilgrave ein Telepath, der seinen Willen in die Köpfe anderer Menschen pflanzen kann. Die Virus-Erklärung lässt Kilgraves Kräfte nicht weniger beeindruckend und unheimlich erscheinen, schon allein, wie Trish versucht, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen oder Malcolm und Co. sich beinahe erhängen, sind wieder sehr eindringliche Zeugnisse seiner Macht und wirken auf die Zuschauer intensiv ein. Nichtdestotrotz können wir seine Fähigkeit jetzt besser erfassen, sie wird etwas entmythifiziert und auf eine Ebene gebracht, die wir besser verstehen. Wir wissen, dass Viren jeder Art die Menschen schon immer geplagt haben, wir wissen aber auch, dass Menschen Resistenzen gegen Viren entwickeln können. Wie sich herausstellt, ist Jessica inzwischen gegen Kilgrave immun, die Viren haben bei ihr keine Wirkung mehr. Vielleicht hat sie diese Resistenz dadurch entwickelt, dass sie den Viren so oft ausgesetzt war, schließlich hat sie eine lange Zeit mit Kilgrave verbringen müssen, vielleicht haben auch ihre Kräfte etwas damit zu tun, auf jeden Fall kann Kilgrave sie zu nichts mehr zwingen, was er schon länger weiß und was Jessica nur noch reizvoller für ihn macht. Kilgrave ist ein Virus, das sich zu seinem Antivirus hingezogen fühlt. Krank, aber irgendwie passend.

Freilich gelingt es Albert in der Kürze der Zeit nicht, aus Jessicas Blut einen Impfstoff zu entwickeln, der auch ihn immun gegen die Kräfte seines Sohnes macht. Das wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Der Polio-Impfstoff wurde auch nicht unter Zeitdruck in einem Hotel zusammengemixt. Ein Versuch war es natürlich wert, aber nun befindet sich Albert in der Gewalt seines Sohnes, was eigentlich nur böse enden kann.

Alberts Entführung und vor allem Hopes Freitod gewinnen auch dadurch an Tragik, dass es beinahe anders gekommen wäre. Nachdem Kilgrave die Flucht gelungen ist, er Jeris Ehedrama zum Worst End geführt und aus manipulativen Gründen Hopes Entlassung aus dem Gefängnis veranlasst hat, konnte Jessica ihn zeitweise erneut festsetzen. Sie hatte wieder die Oberhand, doch ausgerechnet Kilgraves frühere Opfer sind ihr, angestachelt von einer verzweifelten Robyn, in den Rücken gefallen. Robyn hat die Anonymen Kilgraviker dazu gebracht, Jessica als Wurzel allen Übels zu betrachten und auf sie loszugehen, was Kilgrave nicht nur zur Flucht verholfen, sondern ihm auch noch eine ganze Wagenladung Geiseln beschert hat. Robyn ist die Art von Charakter, die mich in Filmen und Serien regelmäßig wahnsinnig macht: die Missversteherin aka die Idiotin, die alles kaputt macht. Ein solcher Charakter zeichnet sich dadurch aus, dass er die Helden falsch einschätzt, ihre Taten und Worte missinterpretiert und glaubt, als einziger den vollen Durchblick zu haben, was ihn letztlich dazu verleitet, etwas zu tun, dass die Pläne der Helden zum Scheitern bringt oder zumindest massiv verkompliziert. Die schlimmsten dieser Missversteher sind diejenigen, die dann auch noch die Bösen für die Guten halten.

Besonders perfide ist hierbei, dass die Missversteher in der Regel keine schlechten Menschen sind, sie befinden sich nur auf dem Holzweg und erkennen es nicht, was die Zuschauer zur Weißglut treibt. Mich zumindest. Robyn ist ein Opfer, keine Frage, sie hat ihren Bruder verloren und wurde über Tage belogen und im Unklaren gelassen. Dass sie Wut und Trauer empfindet ist absolut legitim und ohne Zweifel strahlt Jessica nicht sehr viel Vertrauenswürdigkeit aus, wenn man nur auf ihre äußere Schale blickt. Gegen eine Wand klatschen möchte man Robyn trotzdem. Robyns eigene Worte an Malcolm treffen es wohl auf den Punkt: "Wenn du nicht Teil der Lösung bist, bist du Teil des Problems". Robyn ist ein Teil des Problems, nicht absichtlich, aber sie ist es und die Folgen sind dramatisch.

Hopes Selbstmord gehört zu den emotionalen Höhepunkten der an Höhepunkten nun wirklich nicht armen ersten Staffel von "Jessica Jones" und ist, wie oben bereits erwähnt, eine Art Gamechanger. Jetzt kennt Jessica nur noch das Ziel, Kilgrave zu töten. Die Zeit der komplizierten Pläne ist vorbei. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Dann haben wir da noch Will, auf dessen Persönlichkeit sich diese mysteriösen Pillen wirklich nicht positiv auswirken. Er hat sich vom Regen in die Traufe begeben. Um Kilgrave zu stoppen, der seine Gedanken kontrolliert hat, nimmt er Medikamente, die ihn verändern. Das lässt Will nicht unbedingt wie einen cleveren, umsichtigen Menschen erscheinen, eher wie jemanden, der nur Extreme kennt. Wir wissen wenig über seine Vergangenheit, aber es scheint, dass er schon vor seiner Begegnung mit Kilgrave das Opfer von Gehirnwäsche war und darauf getrimmt wurde, bei einer Mission bis zum Äußersten zu gehen, ohne Rücksicht auf sich selbst oder andere. Es wirkt nicht sehr wahrscheinlich, dass er noch Teil der Lösung ist.

Um ein kurzes Fazit zu ziehen: diese Folge ist wieder sehr gelungen, bietet intensive Momente und kanalisiert die Handlung in Richtung eines Endkampfes, in dem es nur noch heißen kann: Jessica oder Kilgrave.

Maret Hosemann - myFanbase

Die Serie "Marvel's Jessica Jones" ansehen:


Vorherige Review:
#1.09 Die Strafecke
Alle ReviewsNächste Review:
#1.11 Die Blauen

Diskussion zu dieser Episode

Du kannst hier mit anderen Fans von "Marvel's Jessica Jones" über die Folge #1.10 1000 Schnitte diskutieren.