Bewertung

Review: #1.06 Du bist ein Gewinner

Foto: David Tennant, Marvel's Jessica Jones  - Copyright: Myles Aronowitz/Netflix
David Tennant, Marvel's Jessica Jones
© Myles Aronowitz/Netflix

Wir sind bei "Marvel's Jessica Jones" mittlerweile bei der Hälfte der ersten Staffel angelangt und dies ist ein guter Zeitpunkt, um Bilanz über die Serie zu ziehen. Episode #1.06 Du bist ein Gewinner eignet sich dabei für mich aber auch besonders gut, weil mir hier wieder einige kleine Schwächen aufgefallen sind, die dann im Gesamturteil doch aber nicht wirklich ins Gewicht fallen. Denn das, was die Serie einzigartig macht, wiegt diese Kleinigkeiten doch wieder enorm auf.

Einer der Schwachpunkte in dieser Episode ist für mich die Tatsache, dass ich die Handlung rund um den Vermisstenfall, mit dem Luke Cage Jessica beauftragt, nicht wirklich gelungen fand. Da der nur als Vorwand fungierte, Jessica und Luke wieder zusammen zu bringen, hatte er eigentlich keine weitere Bedeutung und das merkte man ihm einfach auch an. Aber auch die Dynamik zwischen Jessica und Luke störte mich hier eher, als das sie zur Unterhaltung beiträgt. Habe ich in #1.02 Chrush-Syndrom Jessicas Verhalten in Sachen Lukes verstorbener Frau Reva noch verteidigt, weil ich es nachvollziehen konnte, dass sie ihm diese Wahrheit nicht erzählen kann, so hat man dieses Verständnis von Seiten des Zuschauers hier doch arg überstrapaziert. Spätestens als Jessica versucht hat, die Informationen über den Tod Revas aktiv vor ihm fernzuhalten, war ich das Hin und Her zu diesem Thema doch sehr leid. Glücklicherweise hat man die Wahrheit hier dann aber doch noch ans Licht gebracht, und man hat sich dazu entschieden, es nicht durch einen dummen Zufall zu offenbaren, sondern Jessica gesteht doch noch Luke, dass sie selbst Reva getötet hat.

Die Szene, als Luke dann die Wahrheit erfährt hat dann eben auch alles wieder wett gemacht, was vorher zwischen ihnen passierte. Zumindest auf Zuschauerebene, war ich bis dahin von den Vertuschungsversuchen Jessicas noch genervt, hat mich dann Krysten Ritter mit ihrer absoluten Verletzlichkeit in diesem Moment doch wieder absolut vom Hocker gehauen. Und so ging es mir nun schon einige Male, dass eine Episode sich bis zum Mittelteil noch eher als mittelmäßig anließ, man dann im Schlussdrittel aber noch einmal alle Register zog und vor allem immer wieder durch raue Emotionalität überzeugte.

Und mit Lukes Entsetzen über Jessicas Verhalten sind wir dann auch wieder bei den verhaltenspsychologischen Interpretationsmöglichkeiten, die bis dato für mich das absolute Highlight der Serie darstellen. Manchmal könnte man fast meinen, dass "Jessica Jones" als Anschauungsobjekt für Psychologen oder auch Traumaforscher konzipiert wurde. Hier kann man theoretisch erlerntes Wissen, oder auch empirisch aufbereitete Fakten am praktischen Anschauungsobjekt auf eindrucksvolle Art und Weise beobachten. Denn das Jessicas Verhalten in Sachen Luke nicht astrein war, war mir bisher durchaus klar. Aber was für eine krasse Überwindung der Grenzen Lukes dieses darstellt, ohne das der eine Chance hatte, diese Grenzen für sich selbst zu definieren, wurde mir doch hier erst so richtig bewusst. Dadurch, dass Jessica Luke aktiv aufgespürt hat, dass sie ihm aber den Grund dafür verschwieg, macht sie selbst zu einem übergriffigem Stalker. Ein Verhalten, dem sie bei Kilgrave mit allen Mitteln zu entkommen versucht. Und natürlich war es nicht ihre Intention, Luke zu verletzten, aber Intention ist in solchen Dingen nur ein Faktor von vielen. Ohne den Willen, Luke aktiv zu demütigen, kann man sie auf einer Skala des schlechten Verhaltens sicher weiter unten einordnen als den ultimativen Big Bad Kilgrave, aber das ist nur ein sehr schwacher Trost. Ein Mord ist nicht weniger schlimm, wenn man weiß, dass es auf der Welt auch Genozide gibt. Übergriffiges Verhalten sollte man ab einer gewissen Stufe des Übergriffs nicht nach Schrecklichkeit gegeneinander aufwiegen. Und wenn man bedenkt, dass zwischen Jessica und Luke auch Sex im Spiel war, kann man in diesem Zusammenhang auch das Wort Vergewaltigung in den Mund nehmen. Vielleicht nicht im juristischen Sinne, aber auf menschlicher Ebene definitiv. Das ist wirklich starker Tobak, an dem man auch als Zuschauerin eine Weile zu verdauen haben wird.

Aber das gute an einer solchen Serie, bei der man sich sicher sein kann, dass traumatisches Verhalten nie unter den Tisch fällt, ist eben auch, dass wir erfahren werden, wie Jessica nun mit diesem Vorfall umgeht. Dabei finde ich es besonders faszinierend, das wir mit Jessica ein Beispiel erhalten, das stellvertretend dafür steht, wie sich Gewalt vom Täter zum Opfer fortführt, wie Gewalt von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es erfordert unheimlich viel Stärke und viel therapeutische Arbeit, um diesen Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Und die Dinge, die einem angetan wurden, rechtfertigen auch nicht die Gewalt, die man anderen antut. Wie man dieses Dilemma nun rund um Jessica und ihre Beziehung zu Luke Cage weiterbehandeln wird, ist eine unheimlich spannende Frage. Bei dem, was wir an psychologischer Tiefe bisher in der Serie gesehen haben, kann man da sicher auch berechtigerweise viel Hoffnung auf eine faszinierende Fortführung der Geschichte haben.

Ebenso gespannt bin ich darauf, was Kilgrave nun mit seinem neuesten Plan im Schilde führt. Hier in dieser Folge sehen wir den Mann von zwei sehr unterschiedlichen Seiten. Beim Pokerspiel zur Beschaffung der finanziellen Mittel, und während der Recherche über Immobilien in einem Restaurant verhält er sich fast wie ein trotziges Kind. Er ist es schlicht gewohnt, immer seinen Willen zu erhalten und setzt diese Gewissheit mit der Trotzigkeit eben eines verwöhnten Kleinkindes durch, dass sich in den unmöglichsten Momenten wild schreiend auf den Boden wirft, um eine Süßigkeit mehr herauszuhandeln. Als Kilgrave dann aber den Hausbesitzer überzeugen will, ihm das Haus zu verkaufen, verzichtet er bewusst darauf, seine Überzeugungskräfte einzusetzen und gewinnt dieses mit schlichter Bestechung. Warum er hier seine Fähigkeit unterdrückt, ist nicht ganz klar. Aber der wahre Schocker folgt dann sowieso erst aus der Erkenntnis, dass Kilgrave das Haus kaufte, in dem Jessica aufwuchs. Wie man hier unser Wissen über die Straßennamen aus Jessicas Kindheit nutzte, um uns dies klarzumachen, hat mich vor den Autoren den Hut ziehen lassen. Das war wirklich sehr clever gemacht.

Der letzte Aspekt der Episode beschäftigt sich mit Hope, über die wir hier erfahren, dass sie ihren brutalen Überfall aus der letzten Folge selbst in Auftrag gegeben hatte. Und nach dem Überfall fällt aus ihrem Munde zum ersten Mal das alles beherrschende Wort dieser Serie: Vergewaltigung. Bisher schwang die Vergewaltigung von Kilgraves Opfern immer mit, aber hier lässt man keine Zweifel mehr zu. Ebenso wenig Zweifel lässt man zu, dass Hope keinerlei Verpflichtung hat, das Kind, das aus ihrer wiederholten Vergewaltigung entstanden ist, auszutragen. Ihre Entscheidung, das Kind abzutreiben wird niemals in Frage gestellt. Es ist diese Eindeutigkeit in Bezug auf Themen wie Abtreibung und Vergewaltigung, die von unserer Gesellschaft immer noch mit Samthandschuhen angegangen werden, die im öffentlichen Diskurs sonst nach Relativierungen und dem heuchlerischen Gebot der Neutralität verlangen, die "Jessica Jones" so mutig machen. Und eben diese klaren Worte und klaren Bekenntnisse lassen mich der Serie kleinere Fehler auf erzählerischer Ebene leicht verzeihen. So kann ich nach der Hälfte dieser Staffel selbstbewusst sagen, dass "Jessica Jones" eine gut gemachte Thriller-Serie ist, die über ihre Behandlung von außergewöhnlichen Themen zu etwas ganz Besonderem wird.

Cindy Scholz - myFanbase

Die Serie "Marvel's Jessica Jones" ansehen:


Vorherige Review:
#1.05 Das Sandwich hat mich gerettet
Alle ReviewsNächste Review:
#1.07 Die schlimmsten Perversen

Diskussion zu dieser Episode

Du kannst hier mit anderen Fans von "Marvel's Jessica Jones" über die Folge #1.06 Du bist ein Gewinner diskutieren.