Bewertung
Boris Kunz

Paradise

Foto: Kostja Ullmann, Paradise - Copyright: 2023 Netflix, Inc.; Courtesy of Netflix
Kostja Ullmann, Paradise
© 2023 Netflix, Inc.; Courtesy of Netflix

Inhalt

In einer nicht allzu fernen Zukunft ist die Lebenszeit ein neues wichtiges Gut. Gegen viel Geld kann man sich beliebig viele Lebensjahre entnehmen lassen, die dann bei einer entsprechenden DNA-Übereinstimmung transferiert werden können. Max (Kostja Ullmann) arbeitet in dieser Branche bei dem Biotech-Unternehmen AEON und gewinnt unaufhörlich neue Spender, was ihm und seiner Frau Elena (Marlene Tanzscik) ein recht komfortables Leben ermöglicht. Doch von heute auf morgen ändert sich alles und Elena wird verurteilt, ihre Schulden in Form von 38 Lebensjahren zu begleichen. Max blickt auf einmal hinter die Fassade von AEON und setzt alles daran, die Lebensjahre für Elena wiederzubekommen, doch das wird auch für ihn lebensgefährlich.

Kritik

Der Transfer von Lebenszeit wird womöglich nie möglich sein, aber die Idee von "Paradise" ist eher stellvertretend für zahlreiche Themen zu sehen und hat daher die Aufgabe aufzurütteln, aber ohne ein realistisches Schreckensszenario an die Hand zu geben. Bei der Prämisse von "Paradise" habe ich auf jeden Fall sofort an "In Time - Deine Zeit läuft ab" mit Justin Timberlake und Amanda Seyfried in den zentralen Hauptrollen denken müssen. Die Handlung hat sich zwar letztlich ganz anders entwickelt, aber dennoch ist auf jeden Fall die Parallele da, dass Zeit eine neue Währung ist und das ist wenig überraschend, denn immer schon fasziniert die Menschheit die Frage nach dem ewigen Leben. Ob es nun Kryotechnik ist oder eben die Lebenszeit wie ein Spendeorgan weiterzugeben, am Ende will jemand länger leben, als es die biologische Uhr vorgibt. Das ist sicherlich auch ein spannendes Thema, weil wir gleichzeitig in einer Realität leben, wo wir die Ressourcen des Planeten Erden regelrecht ausbeuten, so dass sich umgekehrt die Frage stellt, wofür ewig leben, wenn es gar keine Lebensgrundlage gibt? Doch es ist natürlich nicht nur die Frage nach dem ewigen Leben, die im Bereich von Biotech umtreibt. Es gibt zig Szenarien, denen wir entgegensehen, wovon einige teilweise schon Realität sind, wovon andere noch etwas länger brauchen, aber sie alle werfen ethische Fragen auf, bei denen man erahnen kann, dass ein weltweiter Konsens wohl eine Utopie ist. Und dann ist schnell klar, am Ende profitieren in einer kapitalistischen Gesellschaft immer die, die es sich auch leisten können, aber niemals profitieren alle. Man sieht an meinen Ausführungen wohl schon, dass mich solche Themen faszinieren und ich es mag, wenn verschiedene kritische Fragen aufgeworfen werden, damit man als Zuschauer*in aufgefordert wird, sich damit selbst intensiv auseinanderzusetzen und sich eine Meinung zu bilden.

Der Film beginnt mit einem Werbefilmchen von AEON und wie es oft mit der Werbung ist, sieht das doch ganz schön verlockend aus. Hier ein Wehwehchen, dort ein graues Haar, hier Falten, dort immer mehr Einschränkungen. Wäre es da nicht schön, wenn man die Uhr einfach nochmal zurückdrehen könnte? Und dann immer und immer wieder? Dann kommt auch CEO Olivia Theissen (Iris Berben) um die Ecke, die stolz präsentiert, dass für die Nobelpreisträger*innen Lebenszeit-Übertragungen möglich sind, so dass sie mit ihrem Verstand in fittem Zustand weitere bahnbrechende Durchbrüche schaffen können, damit auch alle davon profitieren können. Aber profitieren wirklich alle? Mit einer Akquirierung eines neuen Spenders durch Max tauchen wir in das komplette Gegenteil ein. Das Geschehen spielt in Berlin und da ich schon zweimal vor Ort war, ist mein Eindruck eher, dass sich der Zustand trotzt naher Zukunft eher verschlechtert als verbessert hat. Die Zentrale von AEON mag futuristisch sein und alle fahren brav ein E-Auto, um die Umwelt zu schonen, aber ansonsten finden wir viele Blockbauten, die darauf hindeuten, dass die Schere zwischen arm und reich nur noch größer geworden ist. Aber nicht nur das ist passiert, sondern die Gruppe der Reichen ist ganz klein, die der Armen aber riesengroß. Dazu überall Flüchtlingscamps (ob nun aus Kriegsgründen gefüllt oder weil die Klimaflüchtlinge zunehmen, das lässt der Film offen) und gerade dort sind genug verzweifelte Spender zu finden. So wird innerhalb weniger Minuten des Films offengelegt, ja, eine interessante und faszinierende Vision, aber keine gerechte. Max ist dies offenbar alles furchtbar egal. Er hat einst selbst einige Jahre gespendet, um die Studienschulden loszuwerden und seitdem ging es nur steil bergauf und das durch Gewissensabgabe am Vordereingang von AEON. Da lässt er sich auch als Mitarbeiter des Jahres feiern, denn es ist doch alles perfekt. Da fehlt nur die gemeinsame Familie mit Ehefrau Elena. Doch genau sie ist der Schlüssel, wodurch Max erkennt, was er sich alles vorgemacht hat. Als sie 38 Jahre abgeben muss, um die Schulden des abgebrannten Hauses zu begleichen, da wacht er auf. Das hat mir als Zuschauerin bewiesen, dass er seine Ehefrau wirklich liebt. Solange er glücklich mit ihr war, konnte er alles um sich herum und das Leid anderer Menschen ausblenden. Dieser beschränkte Blick auf die Welt ist nicht unbedingt löblich, weil wir nun mal in einer Gesellschaft leben, aber ist durchaus repräsentativ für den durchschnittlichen Menschen. Elena fand ich dagegen schwerer einzuschätzen. Eigentlich fand ich sie recht sympathisch, aber vor allem im Nachgang habe ich mich viel gefragt, was wohl ihr Moralkodex ist und was sie wirklich über Einiges gedacht hat. Sie arbeitet schließlich im Krankenhaus, sie begegnet also tagtäglich den Menschen, die es nicht so gut haben und dennoch unterstützt sie Max in seinem Job und profitiert zwangsweise davon, denn sie bringt aus dem Krankenhaus sicherlich nicht das üppige Gehalt mit. Somit tut sich nicht nur eine Schere zwischen arm und reich auf, sondern auch eine zwischen Max und Elena und wie ich sie jeweils verstehen konnte.

Nachdem Elena nun die 38 Jahre genommen wurden, erleben wir im Zeitraffer mit, wie sie altert und fortan von Corinna Kirchhoff dargestellt wird. Hier habe ich mich Elena wohl am ehesten verbunden gefühlt. Egal, wie oberflächlich man als Mensch ausgerichtet ist, aber von heute auf morgen im Grunde ein anderer Mensch zu sein, das ist wahrlich nicht einfach zu verdauen. Dass dieser Alterungsprozess sie auch das ersehnte Kind kostet, ist wirklich harter Tobak. Dennoch hat sich danach eine Entwicklung in Gang gesetzt, wo ich Elena nicht mehr so gut folgen konnte. War ich ihr gerade noch relativ nah, wird es danach wieder schwieriger und ich hatte auch den Eindruck, dass Elena danach ohnehin in ihren Überzeugungen wie ein Jo-Jo daherkommt. Mit Max ist es dagegen immer besser geworden. Natürlich war sein Vorgehen durchaus manches Mal fragwürdig und zu extrem, aber man hat ihm immer abgenommen, dass er Elena wirklich liebt, egal, wie sie gerade aussieht. Und hätte es sie nicht so unglücklich gemacht, dann hätte er sie auch 38 Jahre älter einfach bedingungslos weitergeliebt. So wendet sich Elena aber ab und Max muss somit die Trennung verhindern. Ab hier wird "Paradise" immer mehr zum Thriller und dennoch bleiben natürlich immer noch die kritischen Fragen, die sich die Figuren wegen ihres eigenen Handelns gefallen lassen müssen. Mit zunehmendem Verlauf fand ich es aber besonders bei anderen Figuren spannend. So beispielsweise bei Kaya (Lorna Ishema), die mit Olivia schon lange gemeinsam durchs Leben gegangen ist und immer wieder für sie die Drecksarbeit erledigt hat, mit 30 gespendeten Lebensjahren aber auch einen guten Obolus eingestrichen hat. Doch ihr Kollege Viktor (Numan Acar) stellt zunehmend kritische Fragen. Das mag seine eigentliche Rolle vielleicht zu klar verraten, aber andererseits bewegt er in Kaya was. Ähnlich interessant ist das bei Marie (Lisa-Marie Koroll), die Tochter von Olivia, die offenbar anders gestrickt ist als ihre Mutter und sich dennoch die Frage gefallen lassen muss, warum sie nicht mehr tut.

Der actionlastige Teil des Films hat mir eigentlich gut gefallen, denn er hat dem Film auch etwas sehr Kurzweiliges verliehen. Die Spieldauer ist recht lang, aber es kommt einem gar nicht so vor. Natürlich sorgt mehr Fokussierung auf wechselnde Handlungsmöglichkeiten dafür, dass die Charakterdarstellung oberflächlicher wird. Zwar gibt es immer noch intensive Momente, aber da kommt dann ins Spiel, dass die Figuren nun wankelmütiger werden, speziell eben Elena. Gerade noch so, dann schon wieder anders. Max ist dadurch einfacher als Zentrum der Geschichte zu etablieren, denn bei ihm ist die eine Priorität, die er hat, am klarsten. Das ganz finale Ende hat mich nicht überzeugt. Auf einmal ging alles zu schnell und ich habe mich auch gefragt, was Projekt Adam eigentlich genau geplant hat. Die waren durch ihre eigene Agenda bis dato sehr durchdacht und weitsichtig inszeniert worden, aber das Kidnapping von Max und Co. wirkte zu impulsiv und hat dementsprechend dann auch sein hartes Ende gefunden. Aber auch die anderen Figuren wirkten nur noch beliebiger. Marie würde auf einmal abdrücken, Elena lässt Max sitzen, denn Familie liebt sie offenbar mehr als ihn. Das war mir am Ende zu viel aus dem Hut gezaubert, auch wenn so natürlich noch viel offen ist und man locker einen zweiten Teil filmen könnte. Ich glaube aber eigentlich nicht, dass dies das Ziel ist. Ich hatte mehr den Eindruck, dass "Paradise" einen Eindruck gebe soll, aber keinesfalls festgefahrene Antworten liefert, denn so kann sich jeder selbst ein Bild dazu machen und das ist in einer zunehmenden Gesellschaft, wo nur noch nachgeplappert wird, eben auch viel wert.

Fazit

"Paradise" mag laut Wissenschaft ein unrealistisches Near-Future-Setting haben, aber viele Rahmenbedingungen sind uns schon bestens vertraut, so dass es sich doch manchmal beklemmend wahrscheinlich anfühlt. Auch wenn der Film nach hinten raus immer schwächer wird und seine Figuren sowie Motivationen aus den Augen verliert, so macht das Dargebotene nachdenklich und das war wohl das Ansinnen. Der kurzweilige Film hat also seinen Job erfüllt.

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Lena Donth - myFanbase
04.08.2023

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