Bewertung

Review: #1.06 Lügen

Der Selbstmord des Gefangenen aus der letzten Episode ist natürlich der zentrale Ankerpunkt in dieser Episode, denn selbstverständlich muss man untersuchen, wie es dazu kommen konnte. Schnell wird klar, dass es für Brody eng werden könnte, doch die Autoren haben noch ein Ass im Ärmel. Zudem gibt es zahlreiche Kleinigkeiten, die für die Charakterarbeit von Bedeutung sind.

"Don't you ever do that to me again!"

Carrie hat sich gegen eine Kündigung entschieden und geht wieder in die Offensive. Sie will alle Personen, die Kontakt zum Gefangenen hatten, einen Lügendetektortest unterziehen lassen. Das ist absolut sinnvoll und das Mindeste, was man hier tun muss. Ich verstehe auch gar nicht, wie man dem nicht auf den Grund gehen und keine Verbindung zu Faisel vermuten kann. David Estes erweist sich hier wieder als schlechte Führungskraft, weil er das Geschehen einfach nicht überblickt und deshalb von Carrie quasi in die Enge getrieben werden muss. Natürlich war das nicht die feine Art, aber diese Szene hat einen schönen Kontrast zwischen Carrie und Estes aufgeworfen. Estes geht es nur um seine persönlichen Befindlichkeiten und wie er wahrgenommen wird, während Carrie nur das Ziel der Verbrechensbekämpfung vor Augen hat und dafür auch unangenehme Wege geht. Dadurch bleibt Estes weiterhin unsympathisch und somit ein bis dato eher stereotypischer Chef, der dem engagierten Mitarbeiter durch Regeln und andere Zielsetzungen immer wieder Steine in den Weg legt.

Ganz nebenbei gibt es eine Art Versöhnung zwischen Carrie und Saul, die beide den Streit vom Vorabend lieber vergessen wollen. Saul ist mit seiner ganzen Art eher bodenständig und deeskalierend, sodass sich gar kein richtiger Konflikt entwickelt, sondern eher alles wieder so wie vorher ist. Allerdings kann man nicht wissen, inwieweit der Konflikt nicht doch noch unter der Oberfläche schwelen wird. Für den Moment ist mir die intensive Szene aus der letzten Episode hier aber zu einfach aufgelöst und ad acta gelegt worden.

"I don't want you to come with me."

Saul hat aber auch gar keine Zeit und Muße, sich mit Carrie intensiver zu befassen. Er muss seine Ehe retten und versucht dies eigentlich auf die bestmögliche Weise. Er erkundigt sich über eine Versetzungsmöglichkeit nach Neu Delhi, um mit Mira mitgehen zu können. Doch Mira hat sich schon längst entschlossen, dass ihre Entscheidung auch wirklich nur ihre eigene bleiben soll und konsequent sein muss. Sie schiebt fehlende Gemeinsamkeiten vor, um deutlich zu machen, dass sie und Saul einfach nicht mehr zusammen passen und echten Abstand brauchen. Sie will auf eigenen Füßen stehen. Von der Argumentation her klingt das wie die Bitte nach Scheidung. Saul empfindet das auch so, doch die logische Konsequenz einer Scheidung wird hier nicht gegangen. Eventuell erhofft sich Mira, dass Saul lieber seinen Beruf aufgibt. Das wäre wohl der einzige Punkt, der sie umstimmen könnte. So bleibt jetzt etwas in der Schwebe, was das Ziel der Storyline ist. Natürlich wird hier deutlich, welchen negativen Einfluss der Job auf das Privatleben hat. Interessant wäre jetzt aber, inwieweit dies dann wiederum Einfluss auf den Beruf hat. Ein unkonzentrierter Lügendetektortest ist da ein bisschen wenig, da dies nicht zu Zweifeln an Saul geführt hat. Irgendwie hat man hier wohl Potenzial verschenkt.

"We're not fine, we're fucked"

Der Gesuchte Raqim Faisel und dessen Freundin Aileen Morgan sind nun auf der Flucht, weil sie rechtzeitig gewarnt werden konnten. Ziemlich unerwartet erfährt man, dass Aileen die eigentliche Strippenzieherin ist. Es ist schon mutig, in einer US-amerikanischen Serie US-Amerikaner an einem Attentat gegen das eigene Land in den Fokus zu setzen, wenn es eigentlich um den Nahen Osten geht. Bei "24 - Twenty Four" hatte man für solche Fälle immer noch patriotische Gründe, doch hier macht es bisher nicht den Anschein, als sei alles im weitesten Sinne für das eigene Land. Aileen muss aber auch feststellen, zu was ihre Verbündeten fähig sind, denn diese machen kurzen Prozess und ballern einfach mal wild drauf los. Für Faisel werden die Befürchtungen damit tragische Realität. Dessen Tod ging dann doch sehr schnell. Hier hatte ich mich auf ein paar Diskussionen mit Aileen gefreut, weil diese viel härter und resoluter wirkte, während Raqim viel weicher und unentschlossener war. Potenzial für Konflikte in dieser Hinsicht wurde damit im Keim erstickt. Aber man kann auch nicht alles machen und nutzen, wenn der Schwerpunkt auf den Hauptcharakteren liegt und Action sowie ständiges Hin und Her nicht so eine Rolle spielen. In "24" wäre Faisel aber bestimmt noch nicht gestorben.

"Tom Walker was a good man."

Eine vielleicht noch wichtige Nebengeschichte ist die Beerdigung von Tom Walker. Hier lernen wir nämlich die anderen Soldaten der Einheit kennen, die lange Seite an Seite von Brody und Walker agierten. Dabei sticht logischerweise Lauder heraus, der als Kriegsopfer zwar in erster Linie mit Alkohol seinen Frust bewältigt, dafür aber sehr klare Gedanken hat und mehr sieht als andere. Seine Vorwürfe an Brody bezüglich der Heroisierung der Marines und der Werbung waren sehr spannend und reichen wahrscheinlich locker als Aufhänger für ein paar TV-Diskussionsrunden. Leider wurde dieses Thema nicht weiter aufgegriffen, weil Lauder noch viel wichtigere Aspekte für die Serie aufdeckt. Zum einen ist er verwundert, dass Brody lebt und Walker nicht. Schicksal mag ein gutes Argument sein, aber Lauder ist damit bestimmt nicht zufrieden. Man wird das Gefühl nicht los, dass er da eventuell noch mehr unangenehme Fragen stellen könnte. Zweitens bringt er Mike und Jessica ins Spiel und durch Mikes Attacke wird Brody klar, dass Mike mit Jessica ein Verhältnis hat. Als Brody dieser Gedanke kommt, sieht man es richtig in seinem Kopf rattern. Der emotionale Ausbruch ist verständlich, aber eigentlich sollte man doch auch die Fakten im Auge behalten. Für mich ist Mike ein wahrer Freund, weil er sich nach Brodys Verschwinden rührend um die Familie gekümmert hat. Dass da irgendwann Gefühle dazu kommen, denen man nachgibt, weil Brody nach acht Jahren für tot geglaubt wurde, ist wirklich nichts Böses. Da Brody sonst so kalkulierend wirkt, verstehe ich nicht, warum er hier so aggressiv ist, zumal er die Vermutung auch schon hatte. Es gab also genug Zeit, sich über die Beweggründe von Mike Gedanken zu machen.

"I could tell my name and it would sound like a lie."

Es ist aber auch gut zu sehen, dass Brody sehr emotional sein kann und dadurch menschliche Züge behält, die sein sonstiges Wesen nicht so zeigen. Das führt dann auch zum genialsten Schachzug der Autoren. Brody ruft Carrie an, um den Lügendetektortest abzusagen, weil ihn die Erkenntnisse des Tages in keinen vertrauenswürdigen Zustand lassen. Carrie spürt, dass Brody angreifbar sein könnte, und trifft sich mit ihm in einer Bar. Aus einer sehr offenen Unterhaltung und mehreren Drinks wird schließlich Sex und man kann hier möglicherweise seitenlang interpretieren, wie man das werten soll. Es ist auf jeden Fall ein wahrer Coup, der so viele Möglichkeiten lässt. Wichtigste Frage ist, wer hat hier an welchen Stellen noch kalkuliert und wer hat sich emotional hinreißen lassen? Hat Carrie bewusst Details verraten, um Brody auf die Schliche zu kommen, sein Vertrauen zu gewinnen? Ist dies nur geschehen, weil sie ihn in die Enge treiben will oder weil wochenlange Überwachung und Beschäftigung mit ihm dazu geführt haben, dass sie tatsächlich Gefühle für den Mann hat? Hat Brody gar alles nur gespielt oder nur den ersten oder nur den zweiten Teil? Alles ist möglich und nichts ist gewiss. Das macht diese Szene so genial und den weiteren Verlauf so spannend.

"Have you ever been unfaithful to your wife?"

Das echte Highlight kommt aber noch. Die Befragungen am Lügendetektor waren relativ fad und ereignisarm, auch wenn man bei Estes und Saul eine genervte Haltung und private Details nutzte, um die Monotonie etwas zu brechen. Warum aber beide so dermaßen unprofessionell agierten, wird nicht deutlich, sodass der Teil eher ein Ärgernis darstellte. Dann kommt aber Brody und als Zuschauer ist man mindestens so herrlich aufgeregt und gespannt wie Carrie, die ihren Erfolg schon kommen sieht. Doch dann gibt es bei der entscheidenden Frage keinen Ausschlag. Carrie ist zurecht perplex, zumal Brody eine enorme Ruhe ausstrahlt, die fast schon beleidigend ist. Man hätte an dieser Stelle aufhören können und alles wäre toll gewesen. Doch "Homeland" reicht toll nicht. Die Serie will mehr und schafft das auch. Carrie will wissen, ob Brody so gut ist, dass er ohne zu zucken lügen kann. Bei der Frage wird Brody sofort klar, dass Carrie dahinter steckt. Und der Blick in die Kamera ist einfach genial. Wie man mit so wenig Mimik so dermaßen überzeugend zum Ausdruck bringen kann, dass man im Vorteil ist, dass man die Macht und die Fäden in der Hand hat, ist faszinierend und erschreckend zugleich. Sein "Nein" ist ein Schlag in Carries Gesicht. Sie weiß, dass sie Recht hat, kann es aber nicht beweisen, weil sie damit ihren Fehler offenbaren müsste, der wohl noch größere Konsequenzen hätte. Allein dieser Schachzug, diese gesamte Szene, ist so intensiv und dermaßen gelungen, dass es spätestens jetzt niemanden mehr geben kann, der die Serie mal so nebenbei laufen lässt. Wahnsinn.

Fazit

Es gibt ein paar Kleinigkeiten, die (noch) nicht nachvollziehbar sind und ein paar Entwicklungen, die etwas schnell gingen. Der Großteil der Episode ist aber genial und besonders am Ende außergewöhnlich. Wer jetzt nicht gepackt wurde, sollte seine Zeit mit der Serie nicht mehr verschwenden. Allen anderen sollte hiermit bewusst geworden sein, dass diese Serie einige Preise gewinnen wird.

Emil Groth - myFanbase

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