Liebes Kind - Review Miniserie

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Wenn es um Serienadaptionen geht und ich generell Interesse an dem Inhalt habe, dann lese ich gerne das Buch zuerst, weil das für mich die natürliche Folge ist. Erst Buch, dann Adaption. Bei Thrillern oder Krimis sehe ich es tendenziell genau umgekehrt. Wobei es den Fall natürlich schon gegeben hat, dass ich ein Buch gelesen habe, was dann noch als Film oder Serie gekommen ist. Da dieses Genre aber von den Auflösungen und Überraschungen lebt, ist das Kennen des Inhalts oft ein Hindernis des eigentlichen Erlebnisses. Dementsprechend bin ich bei "Liebes Kind" froh, dass ich den Inhalt nicht kannte und daher die ganzen sechs Episoden voll mitfiebern konnte.

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Als ich "Liebes Kind" als vielversprechenden Neustart bezeichnet habe, habe ich die ersten augenscheinlichen Parallelen zu dem oscarprämierten "Raum" mit Brie Larson angesprochen. Ich war da sehr gespannt, wie ähnlich es sein wird. Die erste Episode fühlt sich tatsächlich in einigen Belangen vertraut an, weil es eben zur Flucht aus einem mickrigen Raum ohne Umwelteinfluss kommt und das Zurechtfinden in der Wirklichkeit ist mit Problemen versehen. Spätestens aber mit dem Ende der ersten Episode hört die Vertrautheit dann aber auf, denn der Stoff von "Liebes Kind" hat einige tiefere Ebenen, die es dann für die restlichen fünf Episoden zu erkunden gilt. Insgesamt kann ich vor allem festhalten, dass eine extrem atmosphärische Miniserie entstanden ist, die in den einzelnen Episoden keinen großen Niveauunterschied aufweist. Der ganze Inhalt ist so mysteriös und viele Figuren haben auch eine Aura, die alles möglich werden lässt, weswegen es auch immer Überraschungen, Fortschritte in der Handlung und eigene Überlegungen gibt. Vielleicht hat man sich mit der finalen Auflösung aufgrund der Körperproportionen in Episode 5 schon zu sehr verraten, aber das war dann im großen Finale nicht das einzige, was noch wichtig war, so dass sich definitiv ein rundes Bild ergibt.

Foto: Haley Louise Jones & Hans Löw, Liebes Kind - Copyright: 2023 Netflix, Inc.; Courtesy of Netflix
Haley Louise Jones & Hans Löw, Liebes Kind
© 2023 Netflix, Inc.; Courtesy of Netflix

Bei einer Sache bin ich mir sehr sicher, dass sie im Buch besser gelöst worden ist, weil dort meistens mehr Zeit vorhanden ist und das ist die tiefere Charakterisierung von den beiden Ermittlern, Aida Kurt (Haley Louise Jones) von der Kripo Aachen und Gerd Bühling (Hans Löw) vom LKA. Sie sind doch mit die zentralen Charaktere, die durch das Geschehen leiten, aber ich hatte den Eindruck, dass wir nur einzelne Schnipsel präsentiert bekommen haben. Aida kommt beispielsweise zunächst recht hart rüber, was ich in dem Berufsfeld nicht ungewöhnlich finde, da man sich eine gewisse harte Schale schon antrainieren muss. Doch es bricht auch ebenso schnell wieder auf und wir erleben stattdessen eine Ermittlerin, die sich schon vieles zu Herzen nimmt und ein entsprechendes Verantwortungsgefühl hat. Die Schuldgefühle wegen des Kollegen, der auf dem Minenfeld sein Bein verloren hat und wie sie dann zu Ehemann und zwei Kindern nach Hause kehrt, das waren mir zu knappe Aspekte, um den Eindruck zu gewinnen, dass es wirklich um Aida statt nur irgendeine Polizistin geht. Bei Gerd wiederum ist eine sensible Seite früh zu erkennen. Er ist im Vergleich sicherlich mehr ausgearbeitet, weil er eben mit dem Fall eine Vergangenheit hat, aber die Andeutungen zu seiner Depression ist mir letztlich auch zu knapp geblieben. Da merkt man einfach, wie in einer Miniserie Prioritäten gesetzt werden müssen und das geht oft zu Lasten der Ausgestaltung von Charakteren. Insgesamt würde ich sogar sagen, dass das Existieren von Aida schon eine Frage wert ist, weil es die Ergebnisse auch nur mit Gerd hätte geben können. Jones hat sie gut gespielt, aber das war für das Gesamtgeschehen auch schon alles.

Foto: Julika Jenkins & Justus von Dohnányi, Liebes Kind - Copyright: 2023 Netflix, Inc.; Wolfgang Ennenbach
Julika Jenkins & Justus von Dohnányi, Liebes Kind
© 2023 Netflix, Inc.; Wolfgang Ennenbach

In den restlichen Bereichen die Figuren betreffend bin ich deutlich zufriedener. Sowohl die Seite von den Gefangenen als auch die Seite der leidenden Angehörigen wurde gut dargestellt. Karin (Julika Jenkins) und Matthias (Justus von Dohnányi) repräsentieren die zweite Kategorie und bilden ein ideales Gegengewicht zueinander ab. Die Nachricht, dass Lena zurückgekehrt sein könnte, erwischt beide gleichermaßen emotional, doch die Reaktionen könnten unterschiedlicher nicht sein. Matthias ist impulsiv und auf eine Art noch tief traumatisiert, während Karin bedächtiger und rationaler vorgeht. Bei ihm hatte ich tatsächlich fast die gesamten sechs Folgen über ein extrem seltsames Gefühl, als ob er noch auf eine Art und Weise in das Verbrechen involviert sein könnte, was alle hätte schockieren können. Dafür auf jeden Fall ein Lob, denn diese Zwiespältigkeit gegenüber Matthias hat auch ein Reiz des Geschehens ausgemacht. Hat er vielleicht etwas verheimlicht, was seine Schuldgefühle erklärt? War in seiner Beziehung zu Lena etwas nicht normal, was er verspätet überkompensieren will? Ich hatte wirklich einige Gedanken zu ihm und bin dadurch eben auf eine falsche Fährte gestoßen worden, was in diesem Genre aber auch willkommen ist. Sehr interessant war sicherlich auch den Umgang mit den Enkelkindern, weil Matthias so intuitiv auf Hannah (Naila Schuberth) reagiert hat, während der kleinere Jonathan (Sammy Schrein) für ihn quasi nicht existent war. Hier ist auf einer tiefenpsychologischen Ebene auf jeden Fall viel angedeutet worden, ohne das eben offiziell zu analysieren, so dass dann eben der oder die Zuschauer*in genug Möglichkeiten für eigene Gedanken hat.

Foto: Kim Riedle, Sammy Schrein & Naila Schuberth, Liebes Kind - Copyright: 2023 Netflix, Inc.
Kim Riedle, Sammy Schrein & Naila Schuberth, Liebes Kind
© 2023 Netflix, Inc.

Am interessanten - und das ebenfalls aus einer psychologischen Sicht - waren definitiv Lena (Kim Riedle) und die beiden Kinder. Jonathan würde ich wohl noch in Klammern stellen, weil man bei ihm am ehesten ein Kind erlebt, das sehr unter äußeren Einflüssen steht und dadurch verschüchtert und unsicher agiert, weswegen er nicht zur Auflösung beitragen konnte, auch passiv nicht. Naila Schuberth als Hannah ist sicherlich die größte Entdeckung, weil sie ein Kind gespielt hat, das Faszination und eine gewisse Gänsehaut zugleich verursacht. Bei ihr gibt es ständig etwas zu entdecken, sei es wie sie mit ihren antrainierten Mustern auf andere gesellschaftliche Normen trifft oder wenn ihre innere Stimme hervorkommt. Manches Mal wirkt sie wie ein Roboter, aber das würde insgesamt wohl verkennen, wie viele Emotionen auch bei ihr im Spiel sind, die aber eben ganz anders ausfallen, wenn man als Kind 'normal' aufgewachsen ist. Deswegen mochte ich insgesamt die ganze Bandbreite mit Hannah, weil sie als Figur das meiste in mir ausgelöst hat. Bei Lena ist das aber nicht groß anders, wobei bei ihr die Voraussetzungen ganz andere sind als bei Hannah. Sie hatte eben ein Leben vor der Gefangenschaft, weswegen ich der Frage nachgegangen bin, wie beeinflussbar ist der Mensch und wie sehr spielt das Alter eine Rolle? Auch bei ihr ist eine Stimme eingesetzt worden, aber nicht ihre, sondern die des Entführers. Das fand ich als Unterscheidung schon sehr interessant, weil das unterstrichen hat, wie sehr die Ältere noch eine eigenständige Persönlichkeit hat, die aber extrem von ihrem Peiniger konditioniert ist, während Hannah von ihm von Anfang an nach seinem Bild geformt wurde. Lena ist damit letztlich die Figur, mit der man am besten leiden kann, weil sie in einem Strudel steckt und verzweifelt einen Ausweg sucht, obwohl es keinen zu geben scheint.

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Der Kriminalfall an sich ist ein Klassiker, denn die Motivik erlebt man wirklich oft. Das ist mir aber nicht negativ aufgefallen, denn zum einen gibt es auf dem Weg dorthin genug spannende Wendungen, manche eher zufällig, manche intendiert, zum anderen ist von Episode 1 an dieser Weg nicht zu erkennen. Dazu punktet "Liebes Kind" für mich dadurch, sich gar nicht ausgiebig mit dem Täter zu beschäftigen. Normalerweise sind es die Täter in Krimi und Thriller, die mich reizen, aber das ist hier nicht der Fall. Ich war eher von den Opfern fasziniert, eben weil sie nicht nur kurze Zeit leiden mussten, sondern wirklich lange. Dementsprechend hat die Serie durch die Verlagerung der Thematik genau die richtige Stilistik gewählt.

Fazit

"Liebes Kind" ist eine atmosphärisch intensiv erzählte Miniserie, die es über sechs Episoden hinweg schafft, stets eine Grundspannung aufrechtzuerhalten, so dass das Ergebnis bis zum Ende sitzt. Leider gelingt die Betrachtung aller Figuren nicht gleich gut, da ist vielleicht einfach die Zeit ausgegangen. Insgesamt eine gute deutsche Serie, die Parallelen zu "Raum" erfreulich früh hinter sich lässt.

Die Serie "Liebes Kind" ansehen:

Lena Donth – myFanbase

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