Heinrich Heine: Lyrik und Jazz

Texte können Musik sein, das weiß man nicht erst seit Kurt Schwitters Ursonate. Texte können aber auch swingen! Jack Kerouac unterteilte seinen Roman ‚On the Road’ in Chorusse, wie es Jazz-Musiker mit ihren Soli machen. Allan Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti und andere der sogenannten Underground-Lyriker trugen ihre Gedichte in Verbindung mit Livemusik in jazzkellerähnlichen Spelunken vor. In Jack Gelbers Theaterstück ‚The Connection’ agierten die Musiker gleichberechtigt mit den Schauspielern auf der Bühne.

In den Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde der Jazz mit Ornette Coleman, Cecil Taylor, John Coltrane, Charles Mingus und vielen anderen revolutioniert. Neue Ausdrucksformen erweiterten die Musik. Immer wieder wurden Texte in die Stücke eingebaut. Langston Hughes las eigene Gedichte und der Bassist Charles Mingus improvisierte dazu mit seinem Quintett (Weary Blues auf Verve), Leroy Jones (Amiri Baraka) rezitierte sein "Sweet-Black Dada Nihilismus" zum Free Jazz des New York Art Quartet (ESP), Archie Shepp trug seine zornigen Texte wie eine Improvisation vor, um nur einige Beispiele von vielen anderen zu nennen. Aber schon früher wurden Experimente dieser Art gemacht. So nahm Charles Mingus bereits 1957 seine Platte "A Modern Jazz Symposium of Music and Poetry" mit dem Stück "Scenes in the City" auf, in dem Melvin Stewart zur Musik von Mingus Stimmungsbilder von New York rezitierte.

Auch in Europa wurden diese Ideen aufgegriffen und in Deutschland war es vor allen Dingen der Jazz-Papst Joachim Ernst Berendt, der mit seiner Reihe "Jazz und Lyrik" erfolgreich wurde. Die Zeit war reif für derartige Experimente. Autoren schrieben Texte die allein schon wie Melodien klangen. Hans Christian Kirsch’s Roman "Mit Haut und Haar" war eine Antwort auf Jack Kerouac und nicht nur die Übersetzungen oder sollte man besser sagen die Nachdichtungen der amerikanischen Underground-Autoren erregten Aufsehen, es gab auch eine Reihe von Deutschen Lyrikern, die wütende Texte gegen das Establishment schrieben und oft wurde Musik (überwiegend Jazz) zur Unterstützung hinzugezogen.

Für die Jazz- und Lyrik-Produktionen griff man aber lieber auf Bewährtes zurück. Es gab ja genügend geeignete Texte, die zeitlos gültig bleiben und durch entsprechende Musik noch verstärkt werden. Gottfried Benn, Heinrich Heine, Christian Morgenstern, Kurt Tucholsky und einige andere haben Gedichte geschrieben, die Sprachmelodie, Spott, Zeitgeist und zeitlose Kritik so miteinander verbinden, dass eine geeignete Musik das Hörerlebnis nur noch intensiver macht. Die Autoren dieser neuen Kunstform arbeiteten aber in erster Linie mit der Collage. Das heißt, aus dem riesigen Fundus der Jazz-Aufnahmen wurden entsprechende Fragmente ausgewählt und mit den Texten zusammengefügt. Wenn man so will, so war das ein einfacher Vorläufer der Sample-Technik von heute.

Hörproben: "Rückschau", "Ich hab' im Traum geweinet", "Ich hatte einst ein schönes Vaterland", "Nachtgedanken"

Es gab allerdings auch Ausnahmen. Auf dem DDR-Label Amiga erschienen verschiedene Produktionen, die zwar bekannte Jazz-Themen zu den Texten von Tucholsky, Biermann, Neruda und Anderen verwendeten, diese aber mit den Jazz Optimisten, einer Ost-Berliner Oldtime Band, neu einspielten. Die Sprecher waren Manfred Krug, Annekathrin Bürger, Gerd E. Schäfer, Werner Sellhorn und Eberhard Esche. Ganz eigene Wege ging dagegen der Lyriker Jens Gerlach, der neue Jazz-Gedichte schrieb, die von Friedhelm Schönfeld vertont und von dessen Sextett, zu dem auch der Avantgarde-Drummer Günter "Baby" Sommer gehörte, begleitet wurden. Gesprochen wurden die Texte von Gisela May und Fred Düren. Die Platten wurden übrigens, wie in der Bundesrepublik, unter dem Begriff Jazz und Lyrik veröffentlicht, wobei Amiga später den Titel in Lyrik Jazz Prosa änderte. Trotzdem war die Idee, Gedichte mit Jazz zu verbinden, eine durchaus gesamtdeutsche Angelegenheit.

Bei Philips gab es unter anderem Produktionen mit Texten von Gottfried Benn, gesprochen von Gert Westphal und Peter Rühmkorf, der seine Gedichte selbst vortrug. Die Musik zu den Texten wurde allerdings vorwiegend aus bereits vorhandenen Schallplatten ausgewählt.

Eine Produktion jedoch ragte aus allem heraus, HEINRICH HEINE LYRIK UND JAZZ. Am 20./21. April 1964 ging Joachim Ernst Berendt mit dem begnadeten Sprecher Gert Westphal, zusammen mit dem Attila-Zoller-Quartett ins Studio und nahm Text und Musik in einer Einheit auf. Die Stücke wurden speziell für die Heine Gedichte geschrieben, besser gesagt improvisiert, aber immer wieder mit Zitaten aus Blues, Gospel, Volksliedern und klassischen Fragmenten versehen. Diese Produktion war (und ist) ein ausgesprochener Glücksfall für die Reihe und auch nach über 40 Jahren ein umwerfendes Hörerlebnis. Danach gab es zwar noch einige Versuche dieses Medium neu zu beleben. So sprach der Lyriker Peter Rühmkorf seine Texte zusammen mit der Musik von Michael Naura ("Kein Apolloprogramm für Lyrik" 1976 und "Phoenix Voran" 1978) im Studio (beide ECM), aber die Intensität der Heine Produktion wurde nie mehr erreicht.

In den letzten Jahren gab es allerdings eine ganze Reihe von Live-Auftritten zum Thema Jazz und Lyrik, vor allen Dingen in den neuen Bundesländern, wo diese Kunstform ja schon in den 60er Jahren sehr erfolgreich war. Es erscheinen auch immer wieder CDs, die als durchaus gelungen gelten können. Vielleicht trägt die wiedererstandene Heine-Produktion ja zur Neubelebung dieses Genre.

Links: klassikakzente.de, jazzecho.de