Grand Army - Review des Piloten

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Blickt man auf die Jugendserien unterschiedlichster Anbieter in den letzten Jahren, so kann man schnell zwei grundverschiedene Lager ausmachen. Auf der einen Seite haben wir die eher unterhaltsamen Jugendserien, in denen es durchaus ernste Themen gibt, die am Ende des Tages aber auf viel Humor und vor allem ganz viel Teeniehormone und damit Liebe setzen. Als Beispiel seien hier Serien wie "Noch nie in meinem Leben ..." oder "Sex Education" genannt. Und dann gibt es die Jugendserien, die Aufklärung betreiben wollen, die genau den Zeitgeist treffen, für die eine Bewegung wie beispielsweise Fridays for Future steht. Hier sind Jugendliche nicht nur eine Altersgruppe, die mit sich selbst, ihrem Familien-, Freundes- und Beziehungsproblemen zu kämpfen haben, sondern die erkennen, dass sie auch unmündig bereits eine Generation sind, die etwas bewegen können. Es sind auch die Serien, in denen schonungslos ehrlich auf eine Thematik gesetzt wird, die schockiert, die aber leider trotzdem für viele Jugendliche bittere Realität ist. Hier haben sich in den letzten Jahren Serien wie "Euphoria" oder "Tote Mädchen lügen nicht" als Vorreiter herausgestellt. "Grand Army" stößt nun genau in dieses Horn, aber wie gut?

Foto: Amir Bageria, Grand Army - Copyright: 2020 Netflix, Inc.; Jasper Savage/Netflix
Amir Bageria, Grand Army
© 2020 Netflix, Inc.; Jasper Savage/Netflix

Für "Grand Army" ist die klare Erzählstruktur der Serie Fluch und Segen zugleich. Es wird auf fünf Perspektiven gesetzt, auf die auch in jeder Episode eingegangen wird. Das verschafft Verlässlichkeit und es gibt einen engen Personenkreis vor, an den man entsprechend auch emotional gebunden wird. Zudem werden auch mit allen fünf Charakteren sehr unterschiedliche Geschichten erzählt, so dass sich eine überzeugende inhaltliche Mischung ergibt. Zum Fluch wird es aber, wenn dennoch ein großes Ungleichgewicht entsteht. "Grand Army" ist definitiv weiblicher erzählt, denn es werden nicht nur drei Mädchen zwei Jungs gegenübergestellt, sondern diese weiblichen Jugendlichen bekommen auch wesentlich mehr Erzählzeit eingeräumt und bekommen auch die Geschichten, die hängen bleiben. Vor allem Jay (Maliq Johnson) ist sehr lange nur schmückendes Beiwerk und fast schon so unbedeutend, dass man als Zuschauer die Szenen mit ihm auch gerne streichen würde, weil die anderen Handlungen doch so viel spannender sind. Erst sehr spät merkt man, dass auch bei ihm das bisschen auf etwas Großes hingearbeitet hat. Das hätte man durchaus geschickter lösen können.

Bei den Jungs haben wir auch noch Sid (Amir Bageria), der gleich mehrere spannende Themen in sich vereint. Zum einen seine Herkunft aus einer indischen Familie, der er trotz seines modernen Bewusstseins gerecht werden will, dann seine Homosexualität, die sich nicht länger verbergen lässt und zuletzt noch seine Angst, dass er aufgrund seines Aussehens in von Terroranschlägen aufgerüttelten Zeiten rein optisch in eine Ecke geschoben wird, in die er nicht hingehört. Das sind alles sehr interessante Ausgangssituationen, aber im Verlauf der ersten Staffel geht Sid oftmals unter. Während das Innenleben der weiblichen Pendants intensiv beleuchtet wird, hatte ich oft das Gefühl, dass Sid dennoch ein Buch mit sieben Siegeln für mich ist. Schließlich gibt es noch einen weiteren Aspekt, bei dem sich starre Erzählstruktur als Hürde erweist. Es gibt viele Nebenfiguren neben den fünf Hauptcharakteren, einige wichtiger als die anderen, aber in der Erzählstruktur doch alle gleich unbedeutend. Es gab genug Momente, wo ich dachte: "Jetzt müssen wir aber doch an den Fersen von Nebenfiguren X bleiben, denn was fühlt sie? Was macht sie jetzt?" Hier wurde aber konsequent auf die Hauptfiguren umgeschwenkt.

Foto: Deanna Interbartolo, Odessa A'zion & Ava Preston, Grand Army - Copyright: 2020 Netflix, Inc.
Deanna Interbartolo, Odessa A'zion & Ava Preston, Grand Army
© 2020 Netflix, Inc.

Thematisch sind dafür starke Bretter ausgepackt worden. Alleine Joeys (Odessa A'zion) Geschichte überstrahlt vieles, zumal es völlig unerwartet kommt, aber gleichzeitig dennoch die Geschichte so vieler junger Frau erzählt, denen vorgeworfen wird, dass sie übergriffige Handlungen verdient haben, weil sie zu aufreizend durch die Gegend laufen. Joeys Entwicklung wird dabei absolut mitreißend gestaltet. Es ist die Geschichte eines selbstbewussten Mädchens, das auch zum männlichen Geschlecht einen völlig unbeschwerten Kontakt pflegt und nicht bei jeder zufälligen Berührung einen sexuellen Hintergedanken hegt. Durch die Trennung ihrer Eltern hat sie sicherlich auch mit Verlustängsten zu kämpfen und als eines von drei Geschwisterkindern weiß sie auch, wie man sich durchsetzt, um im Mittelpunkt zu stehen. All das wird ihr schließlich vorgeworfen, als aus Spaß bitterer Ernst und aus Joey ein Vergewaltigungsopfer wird. An diesem Punkt fängt A'zions starkes Schauspiel erst so richtig an, denn die Verzweiflung darüber, was gerade passiert ist und die anschließende Abwärtsspirale gepaart mit Selbstvorwürfen ist emotional nur schwer zu ertragen. Auch optisch ist die Veränderung eindrucksvoll zu beobachten, denn das selbstbewusste Mädchen versteckt sich am liebsten in weiten Klamotten und erst ganz am Ende findet sie durch das Tanzen wieder ein Stück von sich selbst.

In der Atmosphäre vielleicht nicht so dramatisch, aber dafür schauspielerisch noch einmal ein Stückchen besser erleben wir Dom (Odley Jean), deren große Familie sich ohne Mann im Haus dem täglichen finanziellen Kampf stellen muss. Aber dieses Hamsterrad des ständigen Arbeitens ohne Luftholen hat körperliche Auswirkungen, so dass die Lage nur immer noch ernster wird. Dann muss sich ausgerechnet eine talentierte Schülerin, die sich unter anderen Umständen nur darauf fokussieren würde, einen guten Abschluss zu bekommen, um am College den nächsten Schritt zum Beruf hin zu beschreiten, selbst völlig aufopfern. Über Themen wie arrangierte Ehe, psychische Erkrankungen bei der unterrepräsentierten schwarzen Bevölkerung und vieles mehr wird auch Doms Reise durchs Leben einnehmend erzählt. Schön, dass es hier dann doch noch eine süße Liebesgeschichte sein darf, denn so ganz ohne wäre für eine Jugendserie dann doch schade.

Foto: Amalia Yoo, Grand Army - Copyright: 2020 Netflix, Inc.; Jasper Savage/Netflix
Amalia Yoo, Grand Army
© 2020 Netflix, Inc.; Jasper Savage/Netflix

Abschließend haben wir noch Leila (Amalia Yoo), ein in China geborenes Mädchen, das aber als Waise von einem weißen Paar aus New York adoptiert wurde und die nun mit ihrer Identitätsfindung kämpft, weil sie zu keiner Herkunftsgruppe so wirklich gehört. Vom Papier her auch hier ein tolles Thema, aber ich hatte doch große charakterliche Probleme mit ihrer Figur. Ihre krankhafte Geltungssucht und ihre fürchterliche Naivität waren sicherlich als Symptome ihres Irrens in der großen, weiten Welt gemeint, aber auch ihre Leidenschaft für brutale Comics, in deren Stilistik sie sich auch ihr eigenes Leben denkt, lassen ahnen, dass Leila auf dem völlig falschen Weg ist, wenn ihr nicht bald jemand hilft. Dennoch war Leila keine Figur, die man ins Herz schließt und der man das Beste wünscht. Ob das nun beabsichtig war oder nicht, ist letztlich aber auch egal, denn am Ende des Tages muss man als Zuschauer auch nicht alle Figuren mögen.

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Fazit

"Grand Army" steht Serien wie "Euphoria" und "Tote Mädchen lügen nicht" stilistisch und thematisch in kaum etwas nach. Mit viel Drastik und Schonungslosigkeit soll auf Themen aufmerksam gemacht werden, derer sich die jugendliche Generation ausgesetzt sieht. Schauspielerisch ist gut gewählt worden, so dass vor allem mit den Darstellerinnen bereits viel gewonnen ist, um bei den sensiblen Themen Fingerspitzengefühl zu beweisen. Problematisch ist nur eine starre Erzählstruktur von fünf Perspektiven, deren Nachteile sich im Verlauf der Staffel immer mehr ergeben. Zudem ist "Grand Army" insgesamt zu weiblich erzählt, denn die männlichen Figuren müssen doch oft zurückstecken, obwohl sie genauso viel zu erzählen haben.

Lena Donth – myFanbase

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