Bewertung
Jacques Audiard

Ein Prophet

"Wenn du was zu fressen hast, dann nur durch mich! Wenn du denkst, wenn du träumst, wenn du lebst, dann nur durch mich!"

Foto: Copyright: 2010 Sony Pictures Releasing GmbH
© 2010 Sony Pictures Releasing GmbH

Inhalt

Als der junge Malik El Djebena (Tahar Rahim) seine sechsjährige Haftstrafe antritt, fühlt er sich allein gelassen und kann zudem weder lesen noch schreiben. Doch schon bald gelangt er in den Wirkungsbereich der korsischen Mafia, angeführt von César Luciani (Niels Arestrup), die die Geschicke innerhalb des Gefängnisses leitet. Als Luciani Malik Schutz anbietet, wenn dieser einen Insassen namens Reyeb (Hichem Yacoubi) tötet, wird Malik zunehmend zu einer wichtigen Vertrauensperson Lucianis und dessen Gefolge, und erhält von ihm zahlreiche Aufträge, als es ihm im Laufe seiner Haftstrafe erlaubt wird, für zwölf Stunden das Gefängnis zu verlassen. Malik lernt zu lesen und zu schreiben und nutzt seine Intelligenz, um sein ganz eigenes Netzwerk aufzubauen, bis er bald so mächtig ist, dass er Lucianis Hilfe nicht mehr benötigt und sich von ihm abwendet.

Kritik

Ein wenig überraschend war es schon, als "El secreto de sus ojos" den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewann und damit nicht nur der eigentliche Favorit, der deutsche Beitrag "Das Weiße Band", leer ausging, sondern zudem auch der Geheimfavorit "Ein Prophet". Denn nicht nur, dass sich das französische Kriminaldrama einige Monate zuvor den Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen von Cannes sicherte, es räumte auch danach bei den folgenden Awardverleihungen ab, unter anderem dem London Film Festival und den British Academy Film Awards, und holte zudem die meisten Nominierungen in der Geschichte des César Award, dem nationalen Filmaward Frankreichs. Dazu kommt die Tatsache, dass das neueste Werk von Jacques Audiard zu einem der bestbewerteten Filme der Kritiker 2009 wurde und aufgrund der Thematik sogar Parallelen mit "Der Pate" und "Scarface" gezogen wurden.

Während im Grunde jeder Vergleich mit "Der Pate" schon allein deshalb hinkt, weil damit gleichzeitig auch ein Versuch unternommen wird, die Qualität und Bedeutung der Filme gegenüberzustellen (und da sind nun einmal zumindest die ersten zwei Teile praktisch jedem anderen Machwerk deutlich überlegen), lassen sich durchaus einige Gemeinsamkeiten finden zwischen "Scarface" und "Ein Prophet", insbesondere die Rahmenhandlung des naiven und unbedarften Jünglings, der im Zeitverlauf zunehmend gerissener wird und dem es gelingt, seine Machtposition durch zahlreiche kriminelle Akte auszubauen. Dennoch wäre es falsch, "Ein Prophet" lediglich darauf zu reduzieren, dass er Ähnlichkeiten zu einem Kultfilm hat, denn dazu bietet er dem Zuschauer schlichtweg zu viel.

Die große Faszination, die das Geschehen ausstrahlt, geht von Hauptfigur Malik und dessen Wandlung von einem naiven und unsicheren Außenseiter zu einem kaltblütigen Mörder aus. Er wurde nicht böse geboren, das Gefängnis hat ihn erst zu dem gemacht. Man erfährt nie, weswegen Malik überhaupt inhaftiert wurde, er behauptet, dass er unschuldig sei. Es ist egal. Und so portraitiert der 28-jährige Tahar Rahim nicht nur mit einer ordentlichen Portion Unverbrauchtheit einen zunächst knapp zehn Jahre jüngeren Charakter (der Oberlippenbart bewirkt Wunder), sondern schafft es auch, mit einer faszinierend zurückhaltenden Leistung den Zuschauer zu packen. Malik lernt von César, dass er nichts offenbaren soll, und genau das macht die Figur und dessen Transformation so fesselnd. Viele angesehene Schauspieler sind bis heute nicht in der Lage, ihren Charakteren eine Ambivalenz und Undurchsichtigkeit zu verleihen, sondern versteifen sich darauf, dem Zuschauer zu diktieren, was man gerade denkt und aus welchen Gründen dies geschieht. Das, was der bisher auch in Frankreich sehr unbekannte und unerfahrene Tahar Rahim hier zweieinhalb Stunden, in denen er ohne Verschnaufpause im Fokus steht, abliefert, ist nicht weniger als eine Offenbarung und neben Katie Jarvis in "Fish Tank" die wohl erfrischendste schauspielerische Leistung im vergangenen Jahr gewesen.

Nicht nur, dass Malik aufgrund seiner arabischen Wurzeln ein denkbar unwahrscheinlicher Hauptcharakter ist, Audiard nutzt diesen Umstand auch geschickt, um den Film mit einer politischen Ebene anzureichern, die insbesondere in Frankreich, wo Franco-Araber noch immer unter einem minderen gesellschaftlichen Status leiden, direkt den Finger in die Wunde legt. Im Film werden Araber plötzlich zu Helden, allen voran Malik, der inhärente Konflikt jedoch zwischen Franzosen und Arabern bleibt nicht nur bestehen, sondern wird durch das Gefängnis als Mikrokosmos noch zusätzlich betont. Aber auch die Korsen als eine andere Minderheit werden bei "Ein Prophet" auf fesselnde Art und Weise dargestellt, angeführt von Mafiaboss César Luciani und dessen Gefolge außerhalb und innerhalb des Gefängnisses.

Denn Niels Arestrup als umsichtiger korsischer Gangsterboss César Luciani bietet eine herausragende Leistung. Luciani, jemand, der alles sieht, aber selbst versucht im Hintergrund zu bleiben, der jahrelang die Macht über Leben und Tod hatte und dem das in Fleisch und Blut übergegangen ist, umgibt eine atemberaubende Aura, die einzig und allein Arestrups Verdienst ist, denn sowas steht in keinem Drehbuch der Welt. Und so sind die besten Momente von Luciani die ruhigen, bei denen er versucht, besonnen zu entscheiden und zu reagieren.

Letzten Endes macht Audiard nahezu alles richtig. Einzig in einem klitzekleinen Punkt hat er sich wohl ein wenig zu weit vorgewagt. Bei all dem schonungslosen Realismus wirkt so manches stilistische Element, das meist aber nur für einen kurzen Moment benutzt wird, fehl am Platz. Insbesondere der Geist von Reyeb, der Malik heimsucht, ist zwar als ein Einblick in dessen Seelenleben und die durch den Mord hervorgerufenen Schuldgefühle gut gemeint, macht aber sonst einen im Vergleich zum Rest des Films durch und durch heterogenen Eindruck.

Fazit

Regisseur und Autor Jacques Audiard ist ein eindrucksvolles Portrait eines Mannes gelungen, der in lediglich zweieinhalb Stunden von einem naiven, dürren und unwissenden Jungen zu einem opportunistischen und umsichtigen Kriminellen wird, der all seine Unschuld abgelegt hat. Wetten, dass es Awards nur so geregnet hätte, wenn das ein US-amerikanischer Film gewesen wäre?

Andreas K. - myFanbase
02.04.2010

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