Bewertung
Kettcar

Ich vs. Wir

Daran geglaubt, dass Kettcar aus ihrer Pause zurückkommen, haben wir immer. Aber gleich mit so einem Album? Das hätten wir niemals gehofft. Nun erschien "Ich vs. Wir".

Foto: Kettcar - "Ich vs. Wir" - Copyright: Grand Hotel Van Cleef
Kettcar - "Ich vs. Wir"
© Grand Hotel Van Cleef

Eins vorweg: Wer auf dieser Platte die für Kettcar typische Befindlichkeitsfixierung sucht, wird vielleicht nicht wirklich glücklich. Dafür gibt es allerdings die großartigen Alben aus der Vergangenheit. Denn jetzt ist nicht wirklich die Zeit für Befindlichkeitsfixierung. Es ist die Zeit für den Kampf gegen einen schleichenden, giftigen Prozess, das in Marcus Wiebusch immer wiederkehrende Motiv des Hippies aus vergangener Generation, die Protestierenden.

Für diese Menschen wurde auch "Den Revolver entsichern" geschrieben, beginnend wie ein Brief ("An die ganzen guten Geister …") weiter über sperrige Drums, seit 2010 gespielt von Christian Hake. Die Träumer und Demonstranten, die, die versuchen, die Welt doch noch zum Guten zu verändern, stehen dieser Tage gewissermaßen vor einer Art Burn-Out. Umso wichtiger ist die Self-Care, um an der derzeitigen Lage nicht zu zerbrechen – ein bisschen ebenso das Festhalten an einem Stück Musik wie diesem. Die Botschaft, die ohne Instrumentalbegleitung mit auf dem Weg gegeben wird, lautet, sich "von den verbitterten Idioten nicht verbittern [zu] lassen".

Dieses Album kommt so kurz nach der Bundestagswahl 2017 also völlig zum richtigen Zeitpunkt. So zeichnet "Mannschaftsaufstellung" eine Dystopie, die gar nicht so unrealistisch erscheint in der momentanen Lage. Der digitale Mob darf sozusagen auf den Bolzplatz (Homophobie und Rassismus im Fußball thematisierte Marcus Wiebusch bereits auf seinem ersten Soloalbum "Konfetti"), "die schweigende Mehrheit als zwölfter Mann". Stärkster Satz ist dabei definitiv: "Liebling, ich bin gegen Deutschland". Ebenso bedrohlich wirkt "Das Gegenteil der Angst". Die "Ankunftshalle" wird schließlich erreicht, weil alles zum Davonlaufen ist – und die Masse sich in Einzelschicksale gliedert.

Geschichten werden auf "Ich vs. Wir" aber ebenfalls erzählt. Die von perfekten Helikopterfamilien, die den Schein aufrecht erhalten müssen ("Straßen unseres Viertels"). Die von einem Fluchthelfer im "Sommer '89", einem als erste Single ausgekoppelten Song, bei dem man gar nicht von Sprechgesang reden braucht, da es mehr ein hastiges Vorlesen ist, inklusive kurzem Seitenhieb auf die sächsische Sprache. Die von einem Gerichtsprozess – eine Prügelei "bloß", die aber einen der vier Kerle, den Ole, hinter Gitter bringen wird. "Benzin und Kartoffelchips" ist locker gespielt und sticht mit seinem zu den Lyrics gegensätzlichen Tonteppich besonders heraus.

Den größten Eindruck hinterlässt aber "Trostbrücke Süd". Wunderschön und melancholisch, ruhig und hymnisch – morgens im Bus, fast in der Manier eines "Stockhausen, Bill Gates und ich". Ein Chorgesang stellt zum Schluss fest: "Wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheißmusik auch nicht besser."

Fazit

Musikalisch ist "Ich vs. Wir", das erste gemeinsame Lebenszeichen des Quintetts nach dem 2012er "Zwischen den Runden", durchgehend harter Indierock. Speziell schmissig ist "Wagenburg" – der Text bezieht sich unter anderem auf die Montagsmärsche, auf die Marcus Wiebusch schon früh wenig Bock hatte, wie er damals auf Facebook schrieb. Lyrisch bieten Kettcar Highlights wie: "Das Beste ist immer der Feind des Guten". ("Auf den billigen Plätzen") Schön daran festhalten, Leute. Bleibt stark.

Anspieltipps

Wagenburg

Sommer '89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)

Straßen unseres Viertels

Trostbrücke Süd

Den Revolver entsichern

Tracks

1.Ankunftshalle
2.Wagenburg
3.Benzin und Kartoffelchips
4.Sommer '89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)
5.Die Straßen unseres Viertels
6.Auf den billigen Plätzen
7.Trostbrücke Süd
8.Mannschaftsaufstellung
9.Das Gegenteil der Angst
10.Mit der Stimme eines Irren
11.Den Revolver entsichern

Simone Bauer - myFanbase
07.12.2017

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