Bewertung
Tocotronic

Wie wir leben wollen

20 Jahre Bandbestehen, zehn Alben, Unmengen an feinsinnigen Texten: Deutschlands wortgewaltigste Band legt ein Jubiläumsalbum vor, das keines sein will.

Foto: Tocotronic - "Wie wir leben wollen" - Copyright: Vertigo Berlin
Tocotronic - "Wie wir leben wollen"
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"Wie wir leben wollen" ließe sich ja bestimmt prima analysieren: Im Hinblick auf das Jubiläum oder gar die Jubiläen, inwieweit und ob die Band sich damit auseinandersetzt. Wie das eigentlich genau mit der analogen Telefunken-T9-Vier-Spur-Tonbandmaschine aus dem Jahre 1958 war, das man für die Aufnahmen verwendete und über das jetzt alle aufgeregt berichten: Hört man das den Songs überhaupt an?

Man könnte auch die Texte Silbe für Silbe zerpflücken, auf ihre Bedeutung hin beleuchten und dabei alle schwindligen Fachbegriffe verwenden, die man im Deutschunterricht schon gehasst hat.

Man kann aber auch beschließen, dass einem das alles schnurz und piepe ist, so wie Tocotronic ihr Jubiläumsjahr relativ schnurz und piepe ist – und stattdessen beobachten, welche Empfindungen die neuen Songs eigentlich in einem wecken. Dirk von Lowtzow schafft es immer, dass sich seine Hörer intellektuell aufgekratzt und naseweis-rebellisch fühlen. "Auf dem Pfad der Dämmerung" lernen wir auswendig, weil wir es lieben, dass nach "Ich will Steine werfen / Messer schärfen / Wurzeln brechen" einen halben Song später "Um mich soll's nach Erdbeer stinken" folgt. Die Lieblingszeile aus "Neue Zonen" lassen wir uns als Leitsatz auf imaginäre Flyer drucken: "Wir haben weiche Ziele / Wir sind Plüschophile". Die Stories aus "Vulgäre Verse" verfilmen wir im Kopfkino spektakulär und visionär, und überhaupt und sowieso möchte man hinter jede zweite Textzeile ein dickes Ausrufezeichen malen, den Rest mit pinkem Leuchtmarker anstreichen.

"Worte werden Waffen sein", bemerkt von Lowtzow passend und ein bisschen unheilvoll in "Die Verbesserung der Erde". Nur gut, dass er und seine Mannen auch mit ihren Instrumenten ebenso geschickt hantieren, wie sie es mit ihren Texten tun: Beim Erklingen des vertrauten tocotronischen Gitarrensounds seufzt man wohlig auf, wenn in "Warm und grau" diese Gitarre schließlich wie ein wütender Gaul davongaloppiert, reckt man begeistert die Faust in die Luft. So wie hier der Gesang und die Musik, die immer im richtigen Maße weich, psychedelisch oder kratzig ist, miteinander verwoben sind, für sich selbstsicher auftreten und einander trotzdem nie im Wege stehen, ist das ganz einfach ganz, ganz große Kunst und, so kitschig es auch klingen mag, ein sehr ästhetisches Hörerlebnis.

Fazit

Vielleicht ist das auch die einzige Erkenntnis, die sich in Sachen "Jubiläum hin, Jubiläum her" gewinnen lässt, falls man sich nicht ohnehin schon sicher war: Dass sich die Trainingsjacken-und-Seitenscheitel-Band in diesen 20 Jahren zu einer der in sich stimmigsten, wichtigsten deutschsprachigen Bands entwickelt hat. Selbst wenn es jetzt heißt "Hey / Ich bin jetzt alt / Hey / Bald bin ich kalt", die Alterswerke und -weisheiten können kommen, wir halten Flyer, Filzstifte und Phantasie schon parat.

Anspieltipps

Auf dem Pfad der Dämmerung

Abschaffen

Neutrum

Vulgäre Verse

Die Verbesserung der Erde

Artistpage

Tocotronic.de

Tracks

1.Im Keller
2.Auf dem Pfad der Dämmerung
3.Abschaffen
4.Ich will für dich nüchtern bleiben
5.Chloroform
6.Neutrum
7.Vulgäre Verse
8.Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools
9.Die Verbesserung der Erde
10.Exil
11.Die Revolte ist in mir
12.Warum und grau
13.Eine Theorie
14.Höllenfahrt am Nachmittag
15.Neue Zonen
16.Wie wir leben wollen
17.Unter dem Sand

Stephanie Stummer - myFanbase
21.02.2013

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