My Beautiful Dark Twisted Fantasy
Hip-Hop ist ein Produkt der Postmoderne. Eine Musikrichtung, deren Macher gegen den Strom schwimmen und traditionelle Klangkonventionen zu untergraben versuchen, mit dem Ziel, etwas völlig Neues zu kreieren. In einer Welt, in der wirkliche Innovation jedoch kaum mehr möglich ist, was sich mitunter auch darin widerspiegelt, dass jeder Trend irgendwann wieder kommt, bleibt einem Hip-Hopper dementsprechend auch nichts anderes übrig, als sich fremde Songs und Stile anzueignen, sie zu zerhackstücken, mit eigenen Ideen zu versetzen und schließlich wieder zusammen zu flicken. Auf seiner neuen Platte "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" macht Kanye West genau das.
Er samplet und loopt was das Zeug hält, teils legendäre Klassiker, teils völlig obskure Raritäten, und stellt dabei einmal mehr sein außergewöhnliches Gespür für Timing unter Beweis. Schon im Opener "Dark Fantasy" muss der erste Song dran glauben: Die relativ unscheinbare Liedzeile "Can We Get Much Higher" aus Mike Oldfields "In High Places" wird kurzerhand zur Hookline umfunktioniert, die einen schön raunenden Refrain einleitet, der wiederum solch wunderbar smoothe Strophen folgen lässt, dass man über das pathosgetränkte Klavier und das etwas überflüssige letzte Aufbäumen des Songs gegen Ende wohlwollend hinweghören kann.
"Gorgeous" greift dagegen auf ein markantes E-Gitarrenriff als Leitmotiv zurück, macht dabei allerdings den fatalen Fehler, dieses in Endlosschleife zu loopen, so dass sich der sechsminütige Song trotz eingängigen KiD-CuDi-Gesangsparts und feiner Streichersounds wie Kaugummi zu ziehen scheint bis West schließlich Erbarmen mit seinen Hörern zeigt und pünktlich zu Raekwons Rapeinlage zum Schluss hin doch noch auf Klavier und perkussive Beats umsteigt. Und genau hier liegt eine der zwei (ja, nur zwei) wirklichen Schwachstellen des Albums: Viele der Tracks sind einfach einen Tick zu repetitiv oder langwierig geraten. So läuft "Devil in a New Dress" fast drei Minuten im Kreis, während West vor sich hin rappt, bis endlich etwas Abwechslung reingebracht wird. "So Appalled" kommt angenehm zurückhaltend und mit starken Gastrappern daher, aber einfach nie so richtig zum Punkt. Und die schnöde John-Legend-Ballade "Blame Game" lässt einen erst nach fünf Minuten aufhorchen, als ein wunderbar übertriebenes Telefongespräch zwischen einem Pärchen eingespielt wird, von dem man in der "clean"-Version wohl kein einziges Wort verstehen würde.
Hier wiederum liegt der andere Hund begraben. Denn die provokativen Lyrics auf dem Album dürften selbst dem vehementesten Gegner des "parental advisory"-Stickers übel aufstoßen. Sogar die richtig starken Songs, wie das durch einsames Klaviertropfen eingeleitete (wenn auch leider wieder eine Spur zu lange) "Runaway", hinterlassen angesichts ihrer so überaus plakativen wie primitiven Texte einen höchst bitteren Nachgeschmack. Oder geraten ohne jedwede Spur von Ironie gar zur unfreiwilligen Farce, wie die Black-Sabbath-Verwurstung/Pornostar-Ode "Hell of a Life", in der West so freimütig bekundet: "No more drugs for me, pussy and religion is all I need."
Doch zum Glück schafft es das Album hier und da auch, rein musikalisch so überzeugend starke Akzente zu setzen, dass alles andere zur Nebensache wird. "All of the Lights" ist mit seiner Starbesetzung (Rihanna, Fergie, Elton John – ja, richtig gelesen, Elton John – Alicia Keys, John Legend u.v.m.), preschenden Beats und markanten Bläsern die offensichtliche nächste Singleauskopplung. "POWER" hat so viel – richtig geraten – Power, Drive und Flow, dass man West ausnahmsweise wirklich mal zähneknirschend Recht geben muss, wenn es heißt: "I know damn well y'all feelin' this shit." Denn wer auf die wahnsinnige Idee kommt, in ein und demselben Song die afrikanisch anmutenden Stammesgesänge aus "Afromerica" von Continent Number 6 und King Crimsons "21st Century Schizoid Man" zu samplen und dies dann auch noch derart brillant umsetzt, verdient zweifellos Anerkennung.
Nomen est omen gilt auch für "Monster", das allem voran durch Nicki Minajs wahnwitzige, stimmlich zwischen Barbiepuppe und "motherfucking monster" changierende Gast-Vocals glänzt. Ebenfalls mit von der (Gesangs-)Partie in dieser buchstäblichen Bestie von Song ist auch der großartige Justin Vernon von Bon Iver, dessen hypnotisches "Woods" von der grandiosen "Blood Bank EP" einige Tracks später als Sample für "Lost in the World" dient, was eine gewisse Ironie in sich trägt, da nach der Erstveröffentlichung des Originalsongs so manch ein Anhänger des Singer/Songwriters enttäuscht meinte, Bon Iver würde durch den ungewohnten Einsatz von Autotune plötzlich wie Kanye West klingen. Dass ausgerechnet diese sicherlich mit am meisten Skepsis erwartete Kollaboration sich allem voran durch raffinierte Beats und Samples als eines der absoluten Albumhighlights entpuppt, wird wohl die Anhängerschaft beider Seiten angenehm überraschen. Genauso wie auch das Gil-Scott-Heron-Sample im Schlusstrack "Who Will Survive in America" angenehmt überrascht. Denn hier kann man Kanye West weder Größenwahn noch Geistlosigkeit vorwerfen. Hier lässt er den wahren Spoken-Word-Künstler sprechen und legt nur bei den Beats selbst Hand an. Und macht damit alles richtig.
Fazit
Mit "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" liefert Kanye West ohne Frage sein bestes Album seit "Late Registration" ab. Deswegen ist er aber noch lange nicht der Held, für den er sich hält. Denn dazu ist und bleibt er einfach ein zu mittelprächtiger Rapper mit zu ausladenden Songgesten und schlicht zu unterirdischen Lyrics. Und der Hype um seine Person und dieses Album somit: fuckin' ridiculous.
Anspieltipps
Dark Fantasy
POWER
Monster
Lost in the World
Artistpage
Tracks
| 1. | Dark Fantasy | |||
| 2. | Gorgeous | featuring KiD CuDi & Raekwon | ||
| 3. | POWER | |||
| 4. | All of the Lights (Interlude) | |||
| 5. | All of the Lights | |||
| 6. | Monster | featuring JAY-Z, Rick Ross, Nicki Minaj & Bon Iver | ||
| 7. | So Appalled | featuring JAY-Z, Pusha T, Prynce Cy Hi, Swizz Beatz & The RZA | ||
| 8. | Devil in a New Dress | featuring Rick Ross | ||
| 9. | Runaway | featuring Pusha T | ||
| 10. | Hell of a Life | |||
| 11. | Blame Game | featuring John Legend | ||
| 12. | Lost in the World | featuring Bon Iver | ||
| 13. | Who Will Survive in America |
Paulina Banaszek - myFanbase
31.12.2010
Diskussion zu dieser CD
Weitere Informationen
Veröffentlichungsdatum (US): 22.11.2010Veröffentlichungsdatum (DE): 19.11.2010
Genre: Rap & HipHop, Pop
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Aktuelle Kommentare
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