Bewertung
Koen Mortier

22. Mai

"Normalerweise gehe ich nicht dahin. Ich habe den Durchgang als Abkürzung benutzt. Und während ich da durchging, hatte ich dieses Gefühl. Eine Art Déjà-vu. Kennen Sie ein Déjà-vu? Ich habe oft von einer Person geträumt, die vor uns an einem öffentlichen Ort geht. Ich weiß, sie ist gefährlich, aber ich weiß nicht, warum. Ich spüre, dass nichts Gutes von dieser Person ausgeht."

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Inhalt

Seit dem Tod seiner kleinen Tochter scheint für den Sicherheitsmann Sam (Sam Louwyck) das Leben nur noch aus trister Routine und ewig gleichem Trott zu bestehen. Als er sich am 22. Mai einmal wieder zu seiner Arbeitsstätte, einem Einkaufszentrum, quält, geht ein junger Mann (Titus de Voogdt) an ihm vorbei, der ihm für einen kurzen Augenblick verdächtig vorkommt. Aber Sam scheint die Verzweiflung in den Augen seines Gegenübers nicht sehen zu können, denn er lässt ihn passieren, woraufhin dieser sich in der Einkaufspassage selbst in die Luft jagt. Sam findet sich auf dem Boden mit zerrissenem Trommelfell und umgeben von Dreck und markerschütternden Schreien der Verletzten wieder. Ihm gelingt es, einige von ihnen aus den Trümmern zu ziehen, bevor er, noch überwältigt von dem, was soeben geschehen ist, verwirrt durch die Straße rennt, bis er vor Erschöpfung zusammenbricht. Fortan muss er den Anschlag in einer Mischung aus Realität und Traum, Vergangenheit und Gegenwart, immer wieder durchleben, aus der Perspektive der Geister der Verstorbenen, die den von Schuld geplagten Sam heimsuchen.

Kritik

Als Koen Mortier im Jahr 2007 mit seinem eigenwilligen Drama "Ex-Drummer" auszuloten versuchte, wie viel Elend und exzessive Gewalt man seinen Zuschauern zumuten kann, ist ihm ein Paukenschlag gelungen, der eine ausgewählte Zuschauerschaft vom ersten Moment an begeisterte. Seit diesem Erstlingswerk, das insbesondere auch aus inszenatorischer Sicht höchst beeindruckend war, schart sich eine treue Fangemeinde um ihn, die erpicht darauf ist, das neue Werk des vermeintlichen Kultregisseurs bestaunen zu können. Vier Jahre später ist es nun soweit: Mit "22. Mai" legt Mortier einen Film rund um das Thema Schuld vor, der einen optisch und emotional in den Bann zieht und hierfür diesmal auf abstoßende Grenzerfahrungen wie bei seinem Vorgängerwerk verzichtet.

Dabei beginnt er denkbar unspektakulär und zeigt minutiös den Morgen von Sam, angefangen beim Aufstehen über die Morgentoilette, das Frühstück und die erste Zigarette des Tages, bis zum Gang zur Arbeitsstelle und das Anziehen der Uniform. Bis auf ein kurzes "Guten Morgen" nach einigen Minuten wird in dieser Zeit kein einziges Wort gesprochen. Stattdessen wird die alltägliche Monotonie, mit der Sam sein Leben bestreitet, bis in die letzte Kleinigkeit durchexerziert. Es scheint, als bestünde bei ihm alles nur noch aus Routine. Eine mögliche Erklärung hierfür wird kurze Zeit später präsentiert: Seine kleine Tochter ist bei einer Fahrt mit ihrem Fahrrad von einem Auto erfasst worden. Sam hört den Unfall und eilt herbei, doch sie ist sofort tot. Vielleicht sind all die sich wiederholenden Rituale das Einzige, woran er sich momentan noch klammern kann, nur wenige Meter vor dem eigenen seelischen Abgrund, den man nur allzu gern weit weg von sich schiebt.

Dieses Gefühl, eine Mischung aus Tristesse und Monotonie, überträgt Mortier gekonnt auf den Zuschauer, indem er eine nicht näher beschriebene belgische Stadt mitsamt ihren Einwohnern in Grau- und Brauntöne hüllt und die trostlosen Flecken der Stadt immer wieder inszenatorisch in den Mittelpunkt drängt. Jede Form von Lebendigkeit, Farbe und Fröhlichkeit ist aus dem Film und dem Sam umgebenden Umfeld gewichen, falls sie denn je vorhanden war. Wie zynisch ist es dann, ein Einkaufszentrum als Handlungsort auszuwählen, ein Ort voll von Leben, so mag man meinen? In "22. Mai" jedoch ist das Einkaufszentrum ein Ort, in dem zahlreiche Menschen sterben, die, wie sich im Verlauf des Films zeigen wird, allesamt kein allzu glückliches Leben geführt haben. Hier der Mann, der seinen Arbeitskollegen in Hasenkostüm als Maskottchen gemeinsam mit kleinen Kindern fotografiert, und sich sicherlich mehr unter seinem Leben vorgestellt hat. Dort der verheiratete Ehemann, der sich einbildet, die Frau seiner Träume nach einem Jahrzehnt wiedergesehen zu haben und nun täglich in ihrer Boutique in der Umkleidekabine onaniert. Hier der Kaufhausdetektiv, der dem Treiben des wahnhaften Lüstlings Einhalt gebieten soll, dort der von Liebeskummer geplagte Mitarbeiter eines Transportunternehmens. Und selbst wenn die Charaktere ein unter Umständen recht erfülltes Leben bis dahin geführt haben, so ist der Anschlag in der Einkaufspassage der Grund für ihre Malaise, wie bei der Frau, die dort ihr Kind verloren hat.

Mortier verbindet die Geschichten seiner Figuren (übrigens portraitiert von zahlreichen "Ex-Drummer"-Alumni) und wie diese die Minuten vor der Explosion erlebt haben, durch einen Erzählstil, der durch Anachronie geprägt ist. Er wechselt munter zwischen Gegenwart, Vergangenheit, Traum, Realität und den Perspektiven unterschiedlicher Figuren hin und her, um Stück für Stück offenzulegen, was geschehen ist. Dabei konzentriert er sich bewusst darauf, ihre Umstände und Motive – insbesondere die des Selbstmordattentäters – nur anzureißen, denn "22. Mai" möchte kein Terrordrama oder ähnliches sein, sondern nutzt die Explosion als Zäsur, sowohl im Leben aller Beteiligten als auch in der Erzählstruktur.

Bereits bei "Ex-Drummer" hat Mortier bewiesen, dass er sich, was inszenatorische Fähigkeiten betrifft, vor keinem Regisseur Europas verstecken muss. Was damals noch in Form rückwärtsgewandter Erzählung oder der teilweisen Darstellung der Handlung auf dem Kopf geschah, manifestiert sich nun unter anderem durch eine zunächst höchst schockierende, da realitätsgetreue Illustration der unmittelbaren Auswirkungen des Anschlags, sowie durch zahlreiche Einstellungen, in denen das Motiv der Explosion aus unterschiedlichsten Perspektiven gezeigt wird, und kulminiert am Ende in einer finalen Montage, die problemlos als die wohl eindrucksvollste Szene aus diesem Filmjahr bezeichnet werden kann. Wenn niemand den Weltuntergang schöner als Lars von Trier ("Melancholia") inszenieren kann, dann gilt dasselbe für Koen Mortier und Explosionen in Einkaufszentren.

Fazit

Mit "22. Mai" hat sich Koen Mortier endgültig in der Riege herausragender europäischer Regisseure etabliert. Nach seinem Schlag in die Magengrube in Form von "Ex-Drummer" macht er es dem Zuschauer durch weniger abstoßende Charaktere und Handlungen leichter, mutet ihm durch die elliptische Erzählung, mehrere Interpretationsmöglichkeiten (was, wenn Sam ebenfalls bei der Explosion starb?), die bedrückend-aschfahle Darbietung und eine verstärkte emotionale Bindung zu den einzelnen Figuren aber auf anderen Ebenen deutlich mehr zu. Die Vorfreude auf sein drittes Werk ebbt nun sicherlich nicht ab.

Andreas K. - myFanbase
29.10.2011

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