Bewertung
Beauman, Ned

Flieg, Hitler, flieg

"Dissonanz ist die Wahrheit über Harmonie" – Theodor W. Adorno

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Inhalt

Im Jahr 2008 entdeckt Kevin Broom, ein britischer Sammler von Nazi-Gegenständen, einen Brief von Adolf Hitler an einen gewissen Doktor Erskine. Wenig später steht ein bewaffneter Mann in Kevins Wohnung und zwingt ihn, ihm bei der Suche nach Erskines Geheimnis zu helfen.

England in den 1930er Jahren: der Wissenschaftler Phillip Erskine findet einen seltenen, ungewöhnlich zähen Käfer und gibt ihm den Namen Anophthalmus hitleri. Doch nicht nur Insekten interessieren Erskine, sein Lieblingsforschungsobjekt ist der jüdische, homosexuelle Boxer Seth "Sinner" Roach, der trotz seiner Jugend, seiner geringen Körpergröße und der Tatsache, dass er nur mit neun Zehen geboren wurde, ungewöhnlich attraktiv und stark ist. Erskine will Sinner unbedingt besitzen...

Kritik

Es gibt Bücher, die kauft oder leiht man sich, weil man angesichts eines ungewöhnlichen Titels, eines mysteriösen Covers und/oder eines undurchsichtigen Klappentextes unbedingt herausfinden will, um was für ein Werk es sich verflixt noch mal eigentlich handelt. Bei manchen dieser Bücher kann man allerdings auch hinterher nicht wirklich erklären, was man da gerade gelesen hat. Das erwähne ich natürlich deshalb, weil "Flieg, Hitler, flieg" ein solcher Roman ist.

Die deutsche Aufmachung ist etwas reißerisch geraten, denn mit einem Namen wie Hitler im Titel werden schnell die wildesten und erschreckendsten Assoziationen geweckt. Dabei geht es in dieser Geschichte nur indirekt um den Nationalsozialismus. Der Roman spielt in Großbritannien auf zwei Zeitebenen, im Jahr 2008 und in den 1930er Jahren. Der Hauptprotagonist der Gegenwartshandlung ist Kevin Broom, der aufgrund einer seltenen Krankheit einen unangenehmen Geruch absondert und daher ein sozialer Außenseiter ist. Seine einzigen Freunde sind die Menschen, mit denen er sich Online über Nazi-Sammelstücke austauscht. Er identifiziert sich nicht mit den Nazis, für ihn ist das Sammeln ihrer Hinterlassenschaften in erster Linie eine reizvolle Auseinandersetzung mit dem Bösen.

Die Vergangenheitshandlung erzählt uns von der grotesken Beziehung zwischen dem Boxer Seth "Sinner" Roach und dem Wissenschaftler Phillip Erskine. Sinner, ein aus ärmlichen Verhältnissen stammender Jude, ist lediglich einen Meter fünfzig groß und hat nur neun Zehen, verfügt aber dennoch über erstaunliche Kraft und ein attraktives Äußeres. Wenn er nicht gerade Leute zusammenschlägt, schläft er mit Männern, die er in bestimmten Clubs aufgabelt, oder betrinkt sich hemmungslos. Über andere Menschen bricht er wie ein Gewitter herein: einerseits beängstigend, unkontrollierbar und gefährlich, andererseits aber auch beeindruckend, schön und faszinierend. Der Wissenschaftler Erskine ist auf jeden Fall fasziniert – auf eine abartige, unmoralische Art. Erskine beschäftigt sich mit Rassenhygiene, um perfekte Menschen zu schaffen und vermeintliche Mängel auszumerzen. Dazu experimentiert er mit Insekten. Er ist ein Faschist, ein Bewunderer Hitlers und ein verkappter Homosexueller. Er will Sinner in allen Einzelheiten studieren, vor und nach dessen Tod.

Obwohl es eine Entführung und mehrere Morde gibt, geschieht im Laufe des Romans nicht allzu viel. Wir haben es hier nicht mit Hochspannungsliteratur zu tun. In erster Linie verdeutlicht "Flieg, Hitler, flieg" die Absurdität von Rassenwahn, von Antisemitismus und von Faschismus. Die Charaktere verzerren die Vorstellungen von Perfektion und Mängel. Sinner ist mit genetischen Abnormalitäten geboren und gehört als Jude und Homosexueller gleich zu zwei damals wenig geachteten Minderheiten, dennoch besitzt er Stärke und ein Aussehen, um das ihn andere Männer beneiden. Erskine dagegen stammt aus der Oberschicht und hat keine auffälligen körperlichen Defizite, aber er ist mit sich nicht im Reinen, er ist verklemmt, feige und charakterlich schwach. Solche Diskrepanzen ziehen sich durch den gesamten Roman.

Ned Beauman greift verschiedene Themen auf, die im weitesten Sinne mit Stärken und Schwächen der Menschen zu tun haben, – Sprache, Religion, Sexualität, Technik, Musik -, und zeigt auf, wie grotesk und heuchlerisch mitunter die Versuche der Menschen sind, eindeutig festzulegen, was nun stark und was schwach, was harmonisch und was disharmonisch ist. Beauman beweist dabei ein durchaus fundiertes Wissen, ohne prahlerisch zu wirken.

Am Ende weiß man als Leser nicht wirklich, wie man diesen Roman bewerten soll, was wahrscheinlich sogar beabsichtigt ist. An vielen Stellen ist die Absurdität sehr unterhaltsam, aber so richtig ausgereift wirkt die Geschichte nicht. Viele Ansätze werden gar nicht oder sehr verkürzt weitergesponnen und man kommt nicht umhin, dass Eine oder Andere zu vermissen, ohne sagen zu können, was genau.

Fazit

"Flieg, Hitler, flieg" ist interessant und teilweise grotesk, aber sättigt den Leser nicht vollständig. Es wäre noch mehr möglich gewesen.

Maret Hosemann - myFanbase
24.07.2011

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