Bewertung

Review: #6.06 Bei Sonnenuntergang

Mit #6.06 Sundown haben wir bereits ein Drittel der sechsten und finalen Staffel von "Lost" hinter uns.

Ein DRITTEL.

Grund genug für sämtliche "Lost"-Fans in Tränen auszubrechen – denn damit bleiben uns nur noch 12 Episoden unserer Lieblingsserie. Doch es ist auch ein Grund, um ein bisschen zu rekapitulieren. Was hat die sechste Staffel bislang erreicht? Befinden sich Damon Lindelof und Carlton Cuse auf dem richtigen Weg? Hat die sechste Staffel bislang begeistern können?

Wer bisher noch gezweifelt hat, was er von der Season halten soll, der dürfte mit dieser Episode restlos von der Brillanz der finalen Staffel überzeugt worden sein. Denn sie wartet nicht nur mit ein paar richtigen Schockern auf, sondern verändert auch grundlegend den Status Quo und liefert eine nahezu epische Schlussszene, bei dem so manchem Zuschauer die Kinnlade runterfallen dürfte.

"For every man there is a scale. On one side of the scale there is good. On the other side, evil."

Die Kinnlade fällt das erste Mal, als Sayid aus dem Taxi steigt. An sich nichts besonderes, doch die Betonung liegt auf Sayid. Denn natürlich hatten "Lost"-Fans angesichts des Titels (#6.06 Sundown, ein perfektes Wortspiel mit #1.06 House of the Rising Sun) und der Annahme, dass man die Flash-Reihenfolge der ersten Staffel wiederholen wird (womit Sun und Jin an der Reihe wären), erwartet, dass nun eine Kwon-zentrische Episode an der Reihe ist. Pustekuchen. Team Darlton führt uns mit einem süffisanten Lächeln in die Irre und macht stattdessen eine Sayid-Episode draus. Die Ansage ist klar: Losties, wiegt euch bloß nicht in Sicherheit und glaubt nicht, dass wir vorhersehbare Wege einschlagen... es kommt knüppeldick!

Und das tut es auch in dieser Episode. Sie markiert die Wandlung des Sayid Jarrah von einem Ex-Folterer mit gutem Herz zu einem Ex-Folterer ohne Herz. Die von Dogen prophezeite "Dunkelheit" hat sich in Sayids Seele geschlichen, breitet sich in ihm aus und zerstört ihn nun Stück für Stück. Ist er zu Beginn noch ein wütender Mann, der von Dogen zu Recht Antworten verlangt, so sehen wir zum Schluss, dass Sayid nicht mehr mit der Person zu vergleichen ist, die er vorher war. Das "personifizierte Böse"... ist Sayid.

"I think it would be best if you were dead", sagt Dogen zu Sayid und die Ironie dieses Satzes ist bitter. Denn zunächst hat Dogen die Chance, Sayid zu töten, doch ein Baseball, der ihn an seinen Sohn erinnert, lässt Gnade in ihm aufkeimen, sodass er Sayid am Leben lässt. Ein fataler Fehler, wie sich später herausstellen wird. Dogen hängt einen zweiten Fehler dran, als er Sayid dazu überredet, zu Smokelocke zu gehen und ihm ein Messer in die Brust zu rammen – wohl wissend, dass Sayid keine Chance hat. Ein interessantes Gespräch, das da zwischen den beiden Männern stattfindet, denn Dogen verrät uns bei dieser Gelegenheit ein wichtiges Detail von Smokelockes Plan: Er will nicht nur runter von der Insel, sondern auch sämtliches Leben auf der Insel zerstören, weswegen Sayid ihn nun töten soll. Wie auch im Flashsideway wird Sayid vor eine Entscheidung gestellt, bei der es um Leben und Tod geht – und er entscheidet sich für den Tod.

"They said you were evil incarnate."

Doch Smokelocke ist nicht so leicht zu killen. Was sollen wir nun davon halten? Jacob konnte durch einen Menschen (Ben) erstochen werden und Smokelocke zuckt nicht mal mit der Wimper, als Sayid ihn mit dem Messer durchbohrt. Kann er also gar nicht sterben? Oder muss es jemand Bestimmtes sein, der ihn tötet? Sayid jedenfalls fällt die Kinnlade runter, ähnlich wie uns, und er lässt sich auf einen Deal mit Smokelocke ein: Smokelocke ködert Sayid mit der Aussicht darauf, Nadia wieder zu haben. Ein unheimlich spannendes Angebot. Denn wie soll das möglich sein, wenn Nadia doch tot ist? Kann Smokelocke Tote zum Leben erwecken (man denke an Christians mysteriöses Erscheinen und natürlich auch Sayids eigene Wiederauferstehung)? Oder kann er einen Trip in die alternative Realität bewerkstelligen, in der Nadia noch lebt? Oder lügt er einfach eiskalt und kann nichts von alledem?

Sayid kehrt jedenfalls zum Tempel zurück und löst mit Smokelockes Nachricht Panik aus. Während sich die Anderen zum Aufbruch fertig machen und bereit sind, sich Smokelocke anzuschließen, geht Sayid zu Dogen, um ihm sein Messer zurückzugeben – im wahrsten Sinne des Wortes. Dogens letzte Szene ist eine großartige, denn bevor er stirbt, erhalten wir eine entscheidende Information über seine Vergangenheit. Er ging eine Abmachung mit Jacob ein, um seinen Sohn zu retten, ähnlich wie Sayid es mit Smokelocke tut, um Nadia wieder zu bekommen – und beide, sowohl Dogen als auch Sayid, bezahlen einen hohen Preis. Was hier angedeutet wird, ist ein wesentliches Motiv, das sich bereits seit fünf Staffeln durch die Serie zieht und in dieser Episode besonders ausgeprägt ist: freier Wille vs. Schicksal. Hatte Dogen, als er den Deal mit Jacob einging, um das Leben seines Sohnes zu retten, wirklich eine Wahl? Haben die Tempelleute wirklich eine andere Wahl, als sich Smokelocke anzuschließen? Hat der Sayid der Parallelrealität wirklich eine Wahl, als er Martin Keamy gegenüber steht?

Zumindest der Sayid der "echten" Realität hat eine Wahl. Und er entscheidet sich für den Tod. Er ertränkt Dogen, schlitzt Lennon die Kehle auf und öffnet Smokelocke die Tore, wie ein Trojanisches Pferd. Und während Smokelocke um ihn herum totale Verwüstung anstellt, sieht er Ben mit einem unheimlichen Lächeln an und meint, dass jede Hilfe für ihn zu spät sei. Als dann die Zeitlupe einsetzt und dazu das in diesem Zusammenhang nahezu irrwitzig wirkende Kinderlied "Catch a Falling Star", während die Überlebenden über die Leichen der Anderen hinwegsteigen, vollendet man die ohnehin schon fabelhafte Szene zu einem apokalyptischen Moment. Und Smokelocke? Der lächelt zufrieden und macht sich mit seiner neuen Anhängerschaft auf in den Dschungel.

"I can't be with you because I don't deserve you."

Wie bereits erwähnt, wird Sayid auch in seinem Flashsideway vor eine Entscheidung gestellt: Welche Art von Mann will er sein? Ein Killer – oder nicht? Natürlich bewegt man sich hier in Grauzonen, denn schließlich muss sich Sayid mit dieser Frage gleichzeitig für oder gegen die Sicherheit von Nadia und seiner Familie entscheiden. Doch anders als auf der Insel ist Alterna-Sayid dazu gewillt, keine Gewalt anzuwenden und entscheidet sich unter Nadias gutem Einfluss zunächst dafür, nicht einzuschreiten. Eine schöne Gegenüberstellung, die verdeutlicht, wie sehr Nadias Verlust Sayid an den Rand und schließlich erst in Bens und nun in Smokelockes Arme getrieben hat.

Doch es wird Sayid förmlich aufgezwungen, sich anders zu entscheiden. Erst wird Omer schwer verletzt (klasse: Sayid begegnet Jack flüchtig im Krankenhaus), dann wird er zum Schuldeneintreiber höchstpersönlich geführt, der sich als Martin Keamy herausstellt. Letztlich tötet Sayid ihn, denn er hat nicht wirklich eine andere Wahl, um Nadia, Omer und die Kinder zu beschützen. Im Duell freier Wille vs. Schicksal liefert #6.06 Sundown somit ganz klar eine der unbarmherzigsten Varianten: Sayids Schicksal lässt eine freie Entscheidung quasi nicht zu.

"It is sundown. Will you choose to stay or go?"

Befindet sich Team Darlton also auf dem richtigen Weg? Absolut. #6.06 Sundown punktet mit einem fulminanten Ende, einer großartigen thematischen Verstrickung der Echtzeitgeschehnisse mit dem Flashsideway und der konsequenten Weiterentwicklung von Sayid in eine sehr vielversprechende, düstere Richtung. Was jetzt nur noch fehlt, ist ein klares Ziel: Wohin will diese Staffel, ja die gesamte Serie hin? Was will Team Darlton? Bleiben noch 12 Folgen, um sich dieses Ziel zu stecken. Diese Folge jedenfalls ist ein weiterer Grund, um mehr als zuversichtlich zu sein.

Maria Gruber - myFanbase

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