Bewertung

Review: #4.04 Abgehakt

Cliffhanger sind ein einfaches, altbewährtes Mittel, um Zuschauer bei der Stange zu halten. Dennoch gehört "Breaking Bad" zu den Serien, die auf klassische Cliffhanger à la "Wird er oder wird er nicht?" überwiegend verzichten und ihr Publikum am Ende einer jeden Episode in der Regel vielmehr vor vollendete Tatsachen stellen. So war im Grunde genommen auch nach dem Finale der dritten Staffel klar, dass Jesse Gale umgebracht hatte, auch wenn der ein oder andere Fan es einfach nicht wahrhaben wollte und sich dementsprechend an jeden sich bietenden Strohhalm klammerte.

#4.04 Bullet Points wartet hingegen ausnahmsweise mit einem Cliffhanger der ganz konventionellen Art auf, der sich wahrlich gewaschen hat. Denn wieder einmal steht Jesses Leben auf dem Spiel und obwohl man weiß, dass sich Jesse aufgrund seiner Opferrolle und seines weitgehend noch intakten moralischen Gewissens über die Jahre zur zentralen Identifikationsfigur der Serie entwickelt hat, weiß man auch, dass es Vince Gilligan von allen Serienmachern der US-Serienwelt wohl am meisten zuzutrauen wäre, einen derart beliebten wie auch wichtigen Charakter wie Jesse einen frühzeitigen Serientod sterben zu lassen. Ein Glück gehört George Pelecanos nicht zu Gilligans Autorenstab, sonst wäre Jesses Schicksal wohl schon längst besiegelt.

"You really wanna try to sell a DEA agent some ill-prepared, half-assed full whole story about how we suddenly have enough money to buy a car wash?"

Skyler war schon von Anbeginn der Serie ein absoluter Kontrollfreak, aber in kaum einer anderen Folge kam das so wunderbar zur Geltung wie hier. Ihre totale Besessenheit, ihre kriminellen Machenschaften bis ins kleinste Detail durchzuplanen und nichts dem Zufall zu überlassen schien schon bei der Champagner-Diskussion in #4.03 Open House deutlich durch, aber die Tatsache, dass sie den genervten Walt nun auch auf ein Treffen der Anonymen Spielsüchtigen mitschleppt, danach mit ihm Black Jack trainiert und schließlich gar ein richtiges Drehbuch für ihr Treffen mit Hank und Marie verfasst, setzt ihrem Kontrollwahn echt die Krone auf. Und vor allem letzteres passt einfach unheimlich gut zu ihrer Figur, wurde Skyler in der ersten Staffel doch ursprünglich als Autorin von Kurzgeschichten eingeführt.

Dass einem die außerordentlich lange Dialogszene, in der Skyler und Walt ihren Auftritt bei den Schraders proben, überhaupt nicht so lang vorkommt, liegt vor allem daran, dass der Schlagabtausch zwischen den beiden teilweise wirklich zum Schreien komisch ist. Denn Skylers Präzision und Enthusiasmus stehen in so einem krassen Gegensatz zu Walts offensichtlicher Gleichgültigkeit und Genervtheit, dass Walts Blicke allesamt Unmengen an Sarkasmus oder auch Frust transportieren und jeder einzelne Kommentar aus seinem Mund ("Yay!", "Sure.", "Aha.", "One tear, two tears?") einfach wunderbar trocken rüberkommt. So kann man auch als Zuschauer in Anbetracht von Walts Reaktion auf solch herrliche Regie-Anweisungen wie "Hit the Cancer! Really touch on the fear and despair […] We want them to understand why you could do something so stupid." oder "You might look down to the floor with remorse." wahrlich kaum mehr an sich halten. Priceless, einfach nur priceless. (Zwei priceless!)

"Breaking Bad" wäre aber nicht "Breaking Bad", wenn hinter dem humoristischen Aspekt der Einstudierungsszene unterschwellig nicht auch noch unheimlich viel über die Charaktere selbst an die Oberfläche treten würde. Denn während der Diskussion kochen immer wieder die Emotionen hoch. So wird deutlich, dass Walt sich nach wie vor der Illusion hingibt, lediglich für seine Familie sorgen zu wollen, und dass er Skyler ihren Seitensprung mit Ted immer noch unverhältnismäßig übel nimmt: "Where is the 'I slept with my boss'-bullet point?". Dagegen verflucht Skyler Walt dafür, dass er lieber ins Drogengeschäft eingestiegen ist als Hilfe anzunehmen und sie selbst nun ebenfalls dafür büßen muss, weil sie von allen, insbesondere Walter Jr., bloß als "bitch mom who wouldn't cut you any slack" angesehen wird. Noch dazu ist es sehr bezeichnend, dass Skyler die Story, die sie dem Rest der Familie auftischen will, offenbar bereits so sehr verinnerlicht hat, dass sie sich zwischendurch sogar selbst daran erinnern muss, dass sie gar nicht wahr ist. Es scheint mittlerweile also nicht mehr nur Walt an zunehmendem Realitätsverlust zu leiden.

"That, my friend, is Albuquerque's public enemy number one."

Dass Hank seinen Schwager irgendwann im Mordfall von Gale um Hilfe bei der Interpretation von dessen Labornotizen bitten würde, war abzusehen. Die schlichtweg geniale Art und Weise, wie es letztlich dazu kam, hätte man sich jedoch nicht mal in den kühnsten Träumen vorstellen können. Denn David Costabiles kleiner, aber immens feiner Gastauftritt rief nicht nur Erinnerungen an die guten alten und völlig verrückten "Flight of the Conchords"-Zeiten wach, sondern verstärkte auch noch massiv den Eindruck, den man in der dritten Staffel über Gale gewonnen hatte: nämlich den eines im Grunde total harmlosen und liebenswerten Kauzes, der über einen ausgeprägten Musikgeschmack verfügte, Walt Whitman verehrte, seine Abfälle offenbar kompostierte und sich vegan ernährte. Dass dieser nette Kerl es wahrlich nicht verdient hatte, einen so grausamen Tod zu sterben, scheint auch Walt wieder einmal schmerzlich bewusst zu werden, als Gale so völlig unerwartet auf Hanks Bildschirm erscheint und voller Inbrunst "Major Tom" trällert. Denn in sein zunächst total schockiertes Gesicht schleicht sich neben der offensichtlichen Panik allmählich auch eine deutliche Spur von schlechtem Gewissen.

Anders als noch bei der Suche nach Jesses Wohnwagen in der vergangenen Staffel ist es hier im Endeffekt Walt selbst, der die Initiative ergreift und Hank seine Hilfe anbietet, in der (wie sich herausstellt berechtigten) Hoffnung, dass dieser Informationen über die Ermittlungen in Gales Mordfall mit ihm teilt. Ob das früher oder später womöglich Hanks Misstrauen erwecken könnte, bleibt fraglich. Generell genießen es Vince Gilligan und Dean Norris aber ganz offensichtlich, ihren Fans Rätsel aufzugeben, denn sowohl Hanks Kommentar, dass das W.W. in Gales Laborbuch-Widmung auch für Walter White stehen könnte, als auch seiner ungläubigen Reaktion auf Walts Glücksspiel-Talent wird durch Norris' Schauspiel eine derartige Doppeldeutigkeit einverleibt, dass sich die Fanlager zweifellos wieder spalten werden in Bezug darauf, ob Hank insgeheim womöglich tatsächlich eine leise Ahnung hat, dass der eigentliche Heisenberg direkt neben ihm sitzt.

"God, how did everything get so screwed up?"

Zu Walts Panik darüber, dass eine Verbindung zwischen Gale und Heisenberg hergestellt und Fingerabdrücke am Tatort entdeckt wurden, gesellt sich kurz darauf zu allem Überfluss auch noch die Angst, dass Gus Jesses selbstzerstörerisches Verhalten nicht mehr lange dulden wird, weil es ein großes Risiko für sein Geschäft darstellt. Und wie immer, wenn Walt vor einem scheinbar unlösbaren Problem steht, wendet er sich an Saul, in der Hoffnung, dass dieser eine Lösung parat hat. Zu Walts Unmut tut Saul seine Sorgen zunächst als unbegründet ab, da er der Ansicht ist, dass weder Hank noch die Polizei wirklich etwas gegen Jesse in der Hand haben, muss schließlich aber nach einer völlig verzweifelten Wuttirade von Walt zugeben: "You do have a little shit creek action happening." Im selben Atemzug unterbreitet er Walt das Angebot, ihn mit seiner Familie für immer von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Und auch wenn Walt der Verlockung, einfach zu verschwinden, letztlich widersteht, so kommt man nicht um den Gedanken umhin, dass Walt am Ende der Serie womöglich auf das Angebot zurückkommen könnte.

"You're on thin ice, you little shithead."

Jesse bewegt sich ohne Frage auf dünnem Eis. Denn während er seinen Selbstzerstörungswahn und das totale Chaos bei sich zu Hause in den vergangenen Episoden noch verheimlichen konnte durch sein braves Erscheinen bei der Arbeit, kommen ihm in dieser Folge sowohl Walt als auch Mike und Tyrus auf die Schliche. Jesse kümmert das aber überhaupt nicht, denn ihm ist mittlerweile wirklich alles egal. So lässt er sich auch weder von Walts Panik anstecken noch von Mike einschüchtern. Besonders erstaunlich ist, wie klar bei Sinnen er dabei scheint und trotz seines vermeintlichen Drogenkonsums und des psychischen Traumas, das er zweifellos davongetragen hat, zum einen ganz genau weiß, dass Walt sich unnötig Sorgen macht, weil die Fingerabdrücke am Tatort nicht seine sein können, und zum anderen auch völlig durchschaut, dass Mike ihm lediglich Angst einjagen will und jemanden, dem er vorher die Augen verbunden hat, wohl kaum umbringen würde. So können es wohl kaum die Drogen sein, die ihn so apathisch und teilnahmslos wirken lassen. Vielmehr hat sein Mord an Gale offenbar so sehr an seinem Herz und Gewissen genagt, dass Jesse mittlerweile das letzte Fünkchen Lebenswillen verloren hat. Anders lässt sich zumindest nicht erklären, wie er so völlig gleichgültig seinem potentiellen Tod entgegensieht.

Weitere Anmerkungen im Skyler-Style:

  • Gus' Geschäfte scheinen wohl nicht ganz reibungslos zu verlaufen, sonst würde er wohl kaum seinen besten Mann damit beauftragen, Kühltransporte zu beaufsichtigen. Die Anfangsszene deutet also darauf hin, dass Mike nicht zufällig in dem Wagen saß, sondern es auf der Strecke wohl schon öfter Probleme mit dem Kartell gegeben hat. Gus könnte jedoch noch weitaus größere Probleme bekommen, wenn sich herausstellen sollte, dass die Fingerabdrücke in Gales Wohnung von ihm stammen…
  • Mike macht immer mehr den Eindruck, dass er langsam aber sicher genug von seinem Job hat. Seine herrlich mürrische Reaktion auf die Schusswunde an seinem Ohr übertraf ja selbst Walts Enerviertheit in Bezug auf Skyler.
  • Walt ist und bleibt ein elender Besserwisser. Er kann's einfach nicht lassen, gleich einen regelrechten Vortrag über Hanks Mineralien zu halten und ihm damit seine momentan wohl einzige Freude im Leben zu vermiesen.
  • Jesse rasiert sich den Schädel kahl, womit Saul die einzige männliche Hauptfigur der Serie mit Haupthaar bleibt. Was uns Vince Gilligan damit wohl sagen will?
  • Und wer musste bei Jesses "Get some dipping sticks, too, yo!" nicht ganz breit grinsen? Nach der wunderbaren Diskussion um den Sinn und Unsinn von ungeschnittenen Pizzen in #4.02 Thirty-Eight Snub wartet gleich die nächste Folge mit einem herrlichen Shout Out zur großartigen #3.02 Caballo Sin Nombre-Episode.

Fazit

Die Schraders sind in die fiktive Wahrheit eingeweiht, Walt weiß von Hanks Ermittlungen in Gales Mordfall und Gus' Teppichmesser schwebt wie ein Damoklesschwert über Jesse. Nachdem in den vorherigen beiden Folgen die Weichen gestellt wurden, ging es in dieser Folge wieder mal so richtig zur Sache. #4.04 Bullet Points strotzt nur so vor typischem "Breaking Bad"-Humor und weiß darüber hinaus mit wunderbaren Anspielungen auf vergangene Folgen sowie einem fiesen Cliffhanger aufzuwarten. Mit anderen Worten: "It's a doozie."

Paulina Banaszek - myFanbase

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