Review: #7.01 Neugeboren

Zum Auftakt der siebten Staffel von "Grey's Anatomy" kehren wir in ein Krankenhaus zurück, in dem nicht nur die Patienten, sondern auch viele der Ärzte einen schmerzhaften Heilungsprozess durchmachen müssen. Nach Gary Clarks Amoklauf sind die physischen Narben zwar größtenteils verheilt, doch psychisch sind einige Charaktere noch schwer angeschlagen und zum Teil kaum wieder zu erkennen.

Dr. Derek Shepherd: Life is short

Derek, der noch immer Nichts von Merediths Kurzzeit-Schwangerschaft mit Fehlgeburt weiß, ist nach der überstandenen Schussverletzung zum Adrenalinjunkie geworden. Er liebt es neuerdings, mit seinem Wagen viel zu schnell über den Highway zu brettern und sich verhaften zu lassen. Zudem gibt er seinen Posten als Chef der Chirurgie auf, um sich wieder an riskante Operationen zu wagen. Es ist ein häufiges Phänomen, dass Menschen nach einer Nah-Tod-Erfahrung das Leben besonders auskosten wollen und dabei über die Strenge schlagen. Nach der Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit will man plötzlich nichts mehr verpassen und stürzt sich kopfüber in das, was vermeintlich unter "richtig leben" fällt. Sich und andere in Gefahr zu bringen und Ärger heraufzubeschwören, ist allerdings nicht gleichbedeutend mit einem guten Leben, was Derek sicher auch bald einsehen wird.

Obwohl Dereks Entscheidung, den Chefposten aufzugeben, so spontan fällt, ist sie durchaus verständlich, hat ihm der Chefsessel doch wirklich nur extremes Unglück gebracht. So darf Dr. Webber wieder fröhlich tanzend in sein altes Büro zurückkehren, was für mich aber einen faden Beigeschmack behält, da Derek nie wirklich die Chance hatte, zu beweisen, dass er zum Chef taugt. Die Autoren haben sich hier doch ziemlich früh auf einen eindeutigen Verlauf festgelegt. Webber hat nach seiner Degradierung plötzlich wieder fast alles richtig gemacht und viele Sympathiepunkte gesammelt, während Derek als Chef regelrecht verflucht war und sich unter seiner Leitung die schlimmste Katastrophe in der Geschichte des Krankenhauses ereignet hat.

Dr. Meredith Grey: How to get cleared

Meredith würde gerne wieder operieren, doch der Psychiater Dr. Andrew Perkins verweigert ihr die Freigabe. Zwar verhält sich Meredith auf den ersten Blick normaler als viele ihrer Kollegen, was jedoch daran liegt, dass sie die Ereignisse verdrängt und nicht ehrlich darüber spricht. Das ist, wie wir über die Jahre gelernt haben, Merediths typische Art, mit Krisen umzugehen. Dr. Perkins aber ahnt, dass sie etwas Grundlegendes verschweigt. Dieses Etwas ist natürlich ihre Fehlgeburt, von der nur Cristina, Owen und April wissen, denen Meredith Stillschweigen auferlegt hat. Von daher macht es Sinn, Meredith noch nicht wieder in den OP zu lassen, sie muss sich erst ihrem Verlust stellen und offen darüber sprechen, vor allem mit Derek. Sie kann dieses Päckchen nicht alleine tragen.

Dr. Cristina Yang: Simple Girl

Im Gegensatz zu Meredith will Cristina nicht wieder operieren. Sie bemüht sich nicht um die Freigabe, sondern widmet sich nur der bevorstehenden Hochzeit mit Owen. Das ist natürlich nicht die Cristina, die wir kennen und lieben, doch wir können uns ihr Verhalten erklären. Sie ist wie ein Rennfahrer, der sich nach einem schweren Unfall nicht mehr in sein Auto traut, oder wie ein Pilot, der nach einem Absturz Angst hat, wieder ins Cockpit zu steigen. Nachdem Gary Clark ihr im Operationssaal eine Waffe an den Kopf gehalten hat, damit sie Derek sterben lässt, ist der von ihr bisher so geliebte Ort zu einem Schauplatz des Schreckens geworden. Gary Clark hat den Operationssaal, Cristinas Himmel auf Erden, zu einer Hölle werden lassen, in der sie Todesangst durchleiden musste. Die Tragik ist spürbar. Cristina wollte ihr ganzes Leben lang immer nur die beste Chirurgin werden, doch dieses Ziel hat sie an einen Punkt gebracht, an dem ihr eine Waffe an den Kopf gehalten wurde, so dass sie sich nun fragt, ob ein einfaches Leben mit weniger Ehrgeiz nicht erstrebenswerter wäre. Als Owen ihr den Heiratsantrag macht, sagt sie nicht "Ja", sondern bedankt sich bei ihm, was sehr gut ausdrückt, wie dringend sie jemanden braucht, an den sie sich halten kann.

Kann die Ehe von Cristina und Owen funktionieren? Normalerweise habe ich kein allzu großes Vertrauen in Verbindungen, die aus Krisensituationen erwachsen sind, doch zu Owen und Cristina passt dies irgendwie. Bisher konnte Cristina Owens Kriegstrauma nicht nachvollziehen und war außen vor, nun aber hat sie Ähnliches durchlitten und versteht ihn besser als jemals zuvor. Cristina und Owen haben nun die Chance, gemeinsam ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Sicherlich wird Cristina früher oder später wieder in den Operationssaal zurückkehren, aber möglicherweise wird sie nie wieder der OP-Junkie werden, der sie einmal war. Das ist nicht unbedingt schlecht, sondern könnte sie zu einer reiferen, verantwortungsbewussteren Chirurgin machen, aber man wird sehen.

Dr. Alex Karev: Badass

Alex geht nach seiner schweren Verwundung wieder einmal auf Abstand, auch zu den Zuschauern, indem er sich hinter seiner unsensiblen Macho-Schale versteckt. Als Lexie einen öffentlichen Nervenzusammenbruch erleidet, wendet er sich von ihr ab und geht einfach weg. Es ist natürlich nicht schön, Alex wieder als Dr. Teufelsbrut zu erleben, aber es entspricht seinem Charakter, über den wir inzwischen ja einige Hintergrundinformationen, zum Beispiel bezüglich seiner Kindheit, haben. Lexie gibt Alex jedoch zu verstehen, dass sie sich von der Fassade nicht einschüchtern lässt, und erinnert ihn daran, dass er nur dank ihr noch lebt und er im Sterben liegend seine Gefühle für Izzie offenbart hat.

Die Sache zwischen Alex und Lexie dürfte damit endgültig gelaufen sein, zumindest hoffe ich das. Nachdem Alex schon in der vierten Staffel ziemlich deutlich gemacht hat, wie wenig ihm so eine Romanze mit Lexie bedeutet, zeigt er auch jetzt wieder alles andere als tiefe Gefühle für die jüngere Grey. Zusammengenommen behandelt er sie öfter schlecht, als das er sie gut behandelt. Er mag zwar am Ende der sechsten Staffel versucht haben, Lexie wirklich näher zu kommen, da es eine bequeme Alternative war, doch funktioniert hat es offenbar nicht. Ich wäre dafür, dieses Kapitel nun endgültig abzuschließen.

Dr. Lexie Grey: Psychotic

Lexie wirkt auf den ersten Blick als am Schlimmsten von den Ereignissen mitgenommen. Sie muss sogar kurzzeitig zwangseingewiesen werden, nachdem sie die halbe Notaufnahme verwüstet und die Patienten zu Tode erschreckt hat. Damit stellt Lexie aber zugleich das genaue Gegenteil zu Meredith da und lässt ihre Gefühle raus, was aus psychologischer Sicht gesünder ist, als sich komplett zu verschließen. Sie darf sogar wieder operieren, was weder Meredith noch Mark besonders glücklich macht.

Dr. Miranda Bailey: Worst Day of her Life

Bailey ist nach dem Amoklauf erst einmal mit ihrem Sohn zu ihren Eltern geflüchtet und zeigt sich auch nach ihrer Rückkehr noch emotional sehr angeschlagen. Sie trennt sich von Ben, was natürlich sehr schade ist. Er war der richtige Mann, aber leider zur falschen Zeit. Am Tag des Amoklaufs war er nicht im Krankenhaus, sondern beim Golfen, so dass er Baileys Erlebnisse nicht wirklich nachvollziehen kann. Damit haben wir den Kontrast zu Cristina und Owen. Bailey muss nun erst einmal mit sich selbst klarkommen und Ben kann ihr dabei nicht helfen, da er bei diesen einschneidenden Ereignissen nicht dabei war und komplett außen vor ist.

Fazit

Es sieht ganz danach aus, als würden zumindest die ersten Episoden dieser siebten Staffel von interessanten psychologischen Entwicklungen geprägt sein. Der Humor steht dafür verständlicherweise erst einmal deutlich zurück, doch der Drama-Anteil ist komplex und herausfordernd wie selten zuvor in dieser Serie.

Maret Hosemann - myFanbase

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