Bewertung
Fabienne Berthaud

Barfuß auf Nacktschnecken

"Bei Papa musste man, um im Leben was zu werden, entweder Jura oder Medizin machen, alles andere war kacke. Clara hat Jura gemacht, und ich Medizin – bloß auf der Seite der Kranken."

Foto: Copyright: Almode Film
© Almode Film

Inhalt

Das Leben von Lily (Ludivine Sagnier) und Clara (Diane Kruger) ändert sich schlagartig, als ihre Mutter an einem geplatzten Aneurysma stirbt. Die naturverbundene und freiheitsliebende Lily, die in ihrer ganz eigenen Welt lebt, soll zunächst nach Paris zu Clara und deren Ehemann Pierre (Denis Menochet) ziehen, damit Clara sich um sie kümmern kann. Schnell wird klar, dass Lily in der Großstadt nicht zurechtkommt und zutiefst unglücklich ist. Also entscheidet sich Clara dafür, ihren Job und ihren Ehemann vorübergehend hinter sich zu lassen und mit Lily in ihr Elternhaus in der französischen Provinz zu ziehen. Das Zusammenleben der beiden unterschiedlichen Schwestern gestaltet sich anfangs schwieriger als gedacht, doch bald beginnt die Ungebundenheit von Lily auf Clara abzufärben und sie fängt an, ihr konformes Leben in Frage zu stellen.

Kritik

Obwohl er als herzerwärmender, fröhlicher Sommerfilm angekündigt wird (und das auch weitestgehend tatsächlich ist), ist "Barfuß auf Nacktschnecken" keineswegs ein leicht zugänglicher Film. Er ist ein bisschen wie die Protagonistin Lily: anders, unangepasst und lässt sich nicht in eine Schublade stecken. Ein bisschen Drama, ein bisschen Komödie, ein bisschen Doku, ein bisschen Kunstkino – alles in allem sehr französisch. Und für den vorgekauten Einheitsbrei gewohnten Zuschauer ist der Film mit seiner eigenwilligen Erzählweise eine kleine Herausforderung. Denn eine stringente Storyline gibt es nicht, erzählt wird ganz einfach das Leben, wie es passiert. Teilweise wirkt "Barfuß auf Nacktschnecken" dadurch wie ein Episodenfilm und das funktioniert auch wirklich gut in der Hinsicht, dass die Schwierigkeiten zwischen Lily und Clara ebenso schön herausgearbeitet werden wie ihre Verbundenheit und die wachsende Nähe.

Schwierig wird es mit all den Nebengeschichten, die durch diese Episoden angerissen werden und die fast alle irgendwie im Sand verlaufen, wie zum Beispiel Lilys Zuneigung zu Paolo, der Selbstmord des Vaters oder die große Liebe von Clara, die sie ihren Eltern zuliebe verlassen hat. Vielleicht kommt einem hier auch ein bisschen der eigene Verstand in die Quere, da man im ersten Drittel des Films hinter all diesen Andeutungen oder Verweisen eine Relevanz für den ganzen Film sehen will, bevor dann irgendwann der Punkt kommt, an dem man bemerkt, dass es wirklich nur darum gehen soll, das Verhältnis der beiden Schwestern zueinander und zu sich selbst zu zeigen. Die große Stärke des Films sind deshalb vor allem die beiden Hauptdarstellerinnen, die es schaffen, ihre Charaktere authentisch und trotz aller Macken auch liebenswürdig darzustellen.

Diane Kruger gefällt mir in diesem Umfeld um einiges besser als in sämtlichen amerikanischen Blockbustern, denn hier wirkt ihr minimalistisches Spiel intensiv und im Gegensatz zur ins Leere starrenden Helena in "Troja" spricht hier ein einziger Gesichtsausdruck von ihr Bände. Das liegt natürlich auch an der großartigen Arbeit von Fabienne Berthaud, die neben Regie und Drehbuch auch die Kamera übernommen hat, genau wie bei ihrem Debüt-Film "Frankie", der ersten Zusammenarbeit mit Diane Kruger. Eine außergewöhnliche Leistung liefert Ludivine Sagnier ("Paris, je t'aime", "Swimming Pool") ab, die ihre Lily während des ganzen Films beständig auf dem Grat zwischen normal und verrückt hält. Lily ist nicht zurückgeblieben oder behindert, sie ist einfach anders, hat ihren eigenen Blick auf die Welt und sieht nicht ein, sich irgendwelchen gesellschaftlichen Normen oder Regeln anzupassen. Das ist nicht nur für die Menschen in ihrem Umfeld, sondern auch für den Zuschauer befremdlich, doch Ludivine Sagnier spielt Lily mit der nötigen Unbekümmertheit und Unschuld, um deren makabre und bizarre Angewohnheiten nicht abstoßend wirken zu lassen. Die Chemie zwischen Kruger und Sagnier ist wunderbar und rettet den Film über einige Unebenheiten im Drehbuch, da es ihnen auch ohne die nötige Storyline gelingt, die emotionale Tiefe dieser Schwesterbeziehung darzustellen.

Gleichzeitig bleiben durch diesen Fokus auf Lily und Clara der dritte Hauptcharakter Pierre und damit auch die Kohärenz des Films leider ziemlich auf der Strecke. Denn der von Denis Menochet ("Inglorious Basterds") charmant verkörperte Ehemann von Clara ist zu Beginn des Films so verständnisvoll gegenüber der Situation mit Lily, dass sowohl Claras plötzliche Zweifel an ihrer Ehe als auch Pierres Wandlung zum genervten und ungeduldigen Unsympath viel zu überhastet und nicht nachvollziehbar sind. Es hätte dem Film meiner Meinung nach durchaus gut getan, diese Komplexität des Charakters stärker in die Gesamthandlung einzubauen, anstatt Pierre irgendwann einfach fallen zu lassen. Überhaupt lassen die Charakterentwicklungen einiges zu wünschen übrig, denn anders als von Fabienne Berthaud in einem Interview geschildert ist es nicht so, dass beide Schwestern voneinander beeinflusst werden, sondern es ist eigentlich nur Clara, die sich ändert, während Lily überhaupt keinen Reifeprozess durchmacht.

Absolut gelungen ist dagegen der visuelle und ästhetische Aspekt des Films: "Barfuß auf Nacktschnecken" punktet durch tolle Naturaufnahmen, stimmige und atmosphärische Inszenierungen und ein unglaublich fantasievolles Setting, vor allem in Bezug auf Lilys Refugien. Die liebevolle Ausstattung und das Auge für Details sind definitiv große Pluspunkte dieses Films und schaffen es, über weite Strecken von der mangelnden Handlung abzulenken.

Fazit

Tolle schauspielerische Leistungen und ein maues Drehbuch – so lässt sich "Barfuß auf Nacktschnecken" wohl am besten zusammenfassen. Die Grundidee des Plots ist vielversprechend, die Story an sich verliert sich dann allerdings immer wieder und wirkt unausgegoren. Wenn man darüber allerdings hinwegsieht und sich auf die Atmosphäre des Films, auf dieses "laissez-faire" einlässt, dann wird man mit einem unterhaltsamen und schönen Film belohnt, der eben einfach ein bisschen anders ist.

Lena Stadelmann - myFanbase
09.10.2011

Diskussion zu diesem Film