Bewertung
Jan Ole Gerster

Oh Boy

"Ich habe nachgedacht."

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Inhalt

Der in Berlin lebende Endzwanziger Niko Fischer (Tom Schilling) lebt so in den Tag hinein: Sein angefangenes Jurastudium hat er bereits vor zwei Jahren abgebrochen, ohne seinem Vater (Ulrich Noethen) dies mitzuteilen, der weiterhin für sein fiktives Studium monatlich Geld überweist. So lässt er sich durch den Berliner Tag treiben, trifft sich mit seinem Freund Matze (Marc Hosemann), setzt sich mit seinem fragilen Nachbarn (Justus Von Dohnányi) auseinander und versucht irgendwo an eine heiße Tasse Kaffee zu kommen. Als sein Vater durch einen Zufall von Nikos abgebrochenem Studium erfährt, dreht er ihm den Geldhahn ab und Niko muss endlich entscheiden, was er eigentlich mit seinem Leben anfangen will.

Kritik

Ein Mann steht in seinem Hobby-Keller und spielt Tischfußball mit sich selbst. Ein älterer Herr sitzt in einer verlassenen Kneipe in der Berliner Nacht und sinniert über seine lange verlorene Kindheit. Ein talentierter Schauspieler kämpft um eine Statistenrolle und versucht mit vergangenen vergebenen Chancen zu leben. Und ein junger Mann lässt sich durch den Berliner Tag treiben, ziellos von einer leisen Melancholie getragen, verloren wirkend. Verlorenheit. Ziellosigkeit. Hilflosigkeit. Dies sind die unterschwellig stets mitschwingenden Themen in Jan Ole Gersters stiller Tragikomödie "Oh Boy", die mit Hilfe eines versierten Hauptdarstellers und einer stilsicheren Schwarz-Weiß-Ästhetik eine kleine, von leichtem Schwermut getragene Geschichte über die Schwierigkeiten des Lebens und der nie enden wollenden Suche nach einem Sicherheit gebenden lebensweltlichen Sinn erzählt.

Streckenweise wirkt das Langfilmdebüt von Jan Ole Gerster aufgrund des ganz in Schwarz-Weiß gehaltenen filmischen Stils wie aus einer ganz anderen filmischen Epoche und auch die Themen sind zeitlos und gerade in unserer heutigen individualisierten Gesellschaft aktueller denn je. Was will ich eigentlich mit meinem Leben anfangen und wo gehöre ich genau hin, sind Fragen, die sich wohl jeder schon in einer bestimmten Lage seines Lebens gestellt hat. Die Hauptfigur Niko, den der Zuschauer einen ganzen Tag bei seinen verschiedenen Erlebnissen verfolgt, stellt sich diese Fragen schon seit zwei Jahren und hat immer noch keine wirklichen Antworten gefunden. Leben tut er vom Geld seines Vaters, dem er in dem Glauben lässt, sein Jurastudium befinde sich kurz vor der Vollendung. Seit zwei Jahren lässt sich Niko also treiben, lebt als Großstadtflaneur in den Tag hinein, ohne großes Ziel, immer auf der Suche nach irgendwas, was ihm einen Halt geben könnte. Wirklich zu Hause fühlt er sich nirgendwo, seine Umzugskartons bleiben verschlossen, sein Leben befindet sich in der Warteschleife.

Glücklicherweise ist Gersters Film aber alles andere als ein bleischwerer Sinnsuchungsfilm, der sich selbst viel zu ernst nimmt. Durchzogen ist dieses kleine Werk von einem wunderbar ironisch-sarkastischen Grundton und pointiert auf den Punkt gebrachten Sticheleien gegen das Großstadtleben und seine kruden Eigenheiten. Da gibt es Cafés, in dem man keinen normalen Kaffee mehr trinken kann, wahnwitzige Verkehrspsychologen und Irritationen auslösende postmoderne Theaterstücke, in denen das Leid der Geburt tänzerisch mit viel Geschrei nachgestellt wird. Der Wechsel vom Komödiantischen ins Dramatische verläuft dabei fließend, wobei besonders im zweiten Teil die dramatischen Momente überwiegen.

Die episodenhaft angelegte Struktur des Films sorgt dann auch für eine hochspannende Mischung menschlicher Schicksale, die alle um ihren Platz in der Welt kämpfen. Ganz besonders Justus Von Dohnányi als vom Leben gebeutelter Nachbar, der sich vor der Krebskrankheit seiner Frau in seinem Hobbykeller versteckt, oder Michael Gwisdek als alter Kneipenphilosoph setzten starke Akzente und zeigen, dass das Gefühl der Verlorenheit ein generationenübergreifendes schmerzhaftes Dilemma ist.

Dass der Film eine so melancholisch-treibende Grundstimmung aufweist, ist zum einem dem stets optimal passenden Filmscore zu verdanken, welcher zum Großteil aus Jazz-Stücken besteht, und zum anderem seinem Hauptdarsteller, der mit Tom Schilling nicht besser hätte gewählt werden können. Die Rolle des melancholischen Großstädters beherrscht Schilling perfekt, strahlt doch schon allein sein Blick eine tiefe Verlorenheit aus, die den Zuschauer packt und mit ihm mitfiebern und leiden lässt. Wie Schilling mit einer Zigarette in der Hand sehnsuchtsvoll in die Berliner Nacht schaut, hat eine ganz eigene Ästhetik, die von der wunderbaren Schwarz-Weiß-Kulisse nur noch verstärkt wird. Das Ende wird leicht offen gelassen oder auch wieder nicht, wird doch klar, dass man sich nicht für immer vor dem Leben verstecken kann. Man muss sich ihm stellen, so schwer das manchmal auch sein mag.

Fazit

Jan Ole Gerster ist mit "Oh Boy" der vielleicht stimmigste deutsche Film des Jahres gelungenen. Ein Film voller Nachdenklichkeit und Wehmut, welcher aber gleichzeitig durchzogen ist mit einem schönem Humor, welcher das Leben in der Großstadt gekonnt auf die Schippe nimmt. Ein kleiner großer Film über die entscheidenden Fragen des Lebens.

Moritz Stock - myFanbase
30.11.2012

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