Bewertung
Lynne Ramsay

We Need to Talk About Kevin

"He's just a boy. Just a sweet little boy."

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Inhalt

Eva Khatchadourian (Tilda Swinton) ist tagtäglich der Feindseligkeit ihres Umfelds ausgesetzt. Ihr Haus und ihr Auto wird mit Farbe beschmiert und einmal schlägt ihr sogar auf offener Straße eine Frau ins Gesicht. Früher war sie eine überaus erfolgreiche Reisebürokauffrau, nun verdient sie ihr Geld in einem heruntergekommenen Reisebüro mitten in einem Einkaufszentrum. Was geschah, das Eva zum Schatten ihres früheren Selbst werden ließ und weswegen reagieren die Mitbürger so aggressiv auf ihr Dasein?

Dazu wird in Rückblenden das Familienleben Evas erzählt, angefangen bei der Geburt ihres Sohns Kevin (Jasper Newell, Ezra Miller), zu dem sie von Anfang an keinen Zugang findet. Ihrem Ehemann Franklin (John C. Reilly) gelingt dies deutlich besser. Selbst als die gemeinsame Tochter Celia (Ashley Gerasimovich) erst ihr Haustier verliert und anschließend auf einem Auge blind wird, sieht er keinen Zusammenhang zu dem zusehends aggressiven Verhalten Kevins.

Kritik

Es ist nicht ganz einfach, den Inhalt von "We Need to Talk About Kevin", die britisch-amerikanische Koproduktion von Regisseurin Lynne Ramsay, die auf dem gleichnamigen Roman von Lionel Shriver aus dem Jahre 2003 basiert, wiederzugeben ohne das Ende zu verraten. Das Ende ist zwar durchaus ab einem gewissen Punkt absehbar, aber das Wissen darum, was geschehen wird, stört ungemein den Spannungsaufbau. Zwar verläuft die Handlung nonlinear und es wird mehrmals angedeutet, was da auf den Zuschauer zukommt, aber die finalen Szenen hat Ramsay bewusst als Schlusspunkt gesetzt, denn dadurch bekommt man keine Möglichkeit, sich von dem Schlag in die Magengrube, der einem da versetzt wird, noch zu erholen. Damit wirkt das Drama rund um die Frage, welchen Einfluss eine Mutter auf die Taten ihres Sohns tatsächlich haben kann, noch sehr lange nach und macht ihn zu einem schwer verdaulichen Stück Indie-Kino.

Im Film wird munter zwischen den verschiedenen Zeitebenen hin und her gewechselt. Es wird gezeigt, wie Eva früher eine abenteuerlustige und reisefreudige Frau war und wie sie ihren Ehemann Franklin traf, es nimmt hier und da die sich daraus entwickelnden künftigen Ereignisse vorweg, und zeigt auch noch die Gegenwart, in der Eva versucht, mit dem Geschehenen umzugehen. Als ihr erstes Kind, ihr Sohn Kevin, geboren wird, konzentriert sich der Film vor allem darauf. Dabei wird offensichtlich, welch ein schwieriges Kind Kevin eigentlich ist und welche Schwierigkeiten seine Mutter mit ihm hat. So lehnt er jegliche Form von Zuneigung, die von seiner Mutter ausgeht, vehement ab, schreit unaufhörlich, verweigert sich hartnäckig der Gewöhnung ans Töpfchen, sodass er auch noch im Grundschulalter Windeln trägt, und scheint für nichts Interesse aufbringen zu können. Erst als sein Vater Franklin ihm Pfeil und Bogen schenkt, kann er sich für etwas begeistern. Das große Problem hierbei ist, dass Kevin als böses Scheusal eingeführt wird und dies bis zum Ende bleibt. Unzählige Szenen laufen nach dem bekannten Schema ab, dass Eva nur das Beste für ihren Sohn will und er sie auf möglichst verletzende Art und Weise abweist. Das mag am Anfang noch schockierend wirken, ist mit der Zeit aber zu repetitiv, um noch einen großen Einfluss zu haben.

Ohnehin erscheint auch die Charakterzeichnung Kevins sehr einseitig. Es wird nicht nur jegliches positive Verhalten früher oder später zum nächsten Affrontversuch gegen seine Mutter, und sei es nur, dass er besonders nett zu seinem Vater ist, um ihn zu manipulieren und sie dadurch bloßzustellen; es wird auch keinerlei Versuch unternommen, Kevins Verhalten zu erklären, indem er selbst Platz zur Entfaltung bekommt. Stattdessen sieht man ihm im Normalfall immer nur in der Interaktion mit anderen, insbesondere seiner Mutter, wo er einen durch und durch verabscheuungswürdigen Eindruck macht. Klar setzt der Film einen anderen Fokus, was auch legitim ist. Ebenso ist es natürlich nicht einfach, mal so eben das Seelenleben eines Heranwachsenden so adäquat darzustellen, dass seine folgenden Taten zumindest weniger unverständlich wirken. Aber Kevin so einseitig darzustellen und damit einen wichtigen Aspekt, den Ramsays Drama hätte haben können, bereits im Vorfeld im Keim zu ersticken, ist durchaus schade, auch weil Kevin oft wirkt, als würde er aus einem schlechten Horrorfilm stammen. John C. Reilly als Ehemann bekommt keine Möglichkeit zu glänzen und wird zusehends in den Hintergrund gedrängt. Am Ende bleiben von ihm einzig die Momente, in denen er versucht, Kevins Verhalten zu erklären und zu beschwichtigen, in Erinnerung.

Aber das Augenmerk wird nun mal eben vor allem auf Eva und die Beziehung zu ihrem Sohn gelegt. Dabei wird die hochinteressante Frage gestellt, inwieweit eine Mutter eigentlich das Verhalten ihres Sprösslings beeinflussen kann (natürlich möglichst im Positiven) und inwieweit sie für das, was er tut, verantwortlich ist. Zu diesem Zweck wird schließlich auch die zweite Zeitebene, die Gegenwart, etabliert, um zu zeigen, wie Eva versucht, das, was auch ihr zugestoßen ist, zu verarbeiten und wie sie versucht, wieder am sozialen Leben teilzunehmen. Die Tatsache, dass sich dies alles andere als einfach herausstellt, da sie von einem nicht unbedeutenden Teil ihres Umfelds als Schuldige identifiziert wurde und von eben jenem entsprechend aggressiv und gehässig angegangen wird, macht aus "We Need to Talk About Kevin" einen vielschichtigen Film, da die Grenze zwischen Täter und Opfer verwischt. All dies ist eingebettet in eine sehr ansprechende Optik, bei der die Farbe Rot der dominante Faktor ist, und einen überaus gelungenen Soundtrack von Johnny Greenwood (Radiohead), der sich jüngst unter anderem für den Score von Paul Thomas Andersons "There Will Be Blood" verantwortlich zeigte.

Hauptdarstellerin Tilda Swinton trägt einen erheblichen Teil dazu bei, dass trotz der Eindimensionalität von Kevin das Publikum Interesse für den Film, der im Grunde aus ihrer Sicht erzählt wird, aufbringt. Sie ist mit ihrer bisher wohl besten schauspielerischen Leistung (was in Anbetracht dessen, was sie in der Vergangenheit geleistet hat, durchaus beachtlich ist) der große Glanzpunkt und die Person, an der das Funktionieren des ganzen Films hängt. Die Britin mimt Eva als sehr geduldsame und bemühte Frau, die trotz einer Abweisung nach der anderen immer wieder einen neuen Anlauf startet, um Zugang zu ihrem Sohn zu erlangen. Dass sie dabei auch irgendwann mal genug hat und in einer Szene dafür verantwortlich ist, dass sich ihr Sohn den Arm bricht, macht sie nur menschlicher, ebenso wie die Momente, in denen sie komplett überwältigt ist ob dessen, was da auf sie herein prasselt, und all ihre Kraft aufwenden muss, um ein geregeltes Leben zu führen. Sie versucht unentwegt, stark zu sein, durch Swintons furioses Schauspiel merkt man ihr ihre Schwäche aber an. Allein für die Szene am Ende, in der sie einen Gang entlang läuft und sich kaum auf den Beinen halten kann, hätte sie jeden Filmpreis dieser Welt verdient.

Fazit

"We Need to Talk About Kevin" ist Indie-Kino in Reinform, mit all seinen Ecken und Kanten, und durchaus erstaunlich: Da wird einer der zwei Hauptcharaktere bis auf einen winzigen Moment in der finalen Szene eindimensional dargestellt und keinerlei Versuch unternommen, dies zu ändern, und trotzdem funktioniert der Film. Dies ist insbesondere ein Verdienst von Tilda Swinton, die eine schier unglaubliche darstellerische Leistung abruft, sowie der letzten halben Stunde, die in ein schockierendes Ende gipfelt, über das noch viel geredet werden wird.

Andreas K. - myFanbase
31.12.2011

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