Bewertung
Lee Daniels

Precious - Das Leben ist kostbar

"You're a dummy, bitch. You will never know shit. Don't nobody want you. Don't nobody need you. You're gonna fuck the fuck around with my fucking man? And had two motherfuckin' children? And one of them is a goddamn animal, runnin' around and lookin' crazy like a motherfucker?"

Foto: Copyright: 2010 PROKINO
© 2010 PROKINO

Inhalt

1987: Das übergewichtige schwarze Mädchen Claireece "Precious" Jones (Gabourey Sidibe) kann weder lesen noch schreiben und lebt gemeinsam mit ihrer dysfunktionalen Familie in Harlem, New York City. Sie wurde von ihrem Vater Carl mehrmals vergewaltigt und zweimal geschwängert. Ihre arbeitslose Mutter Mary (Mo'Nique) lässt dies nicht nur geschehen, sondern sorgt ihrerseits für die tägliche Portion an psychischen, physischen und sexuellen Übergriffen. Precious' erstes Kind, das nur "Mongo" (Abkürzung für "Mongoloid") genannt wird, leidet am Down-Syndrom und wird von ihrer Großmutter großgezogen. Als sie ihr zweites Kind erwartet, wird Precious von der Schule suspendiert. Ihre ehemalige Direktorin arrangiert, dass sie in einer Schule unterkommt, in der alternativ gelehrt wird, weil sie sich davon eine wichtige Änderung im Leben von Precious verspricht, deren einzige Lebensrichtung bisher monoton in Richtung Sozialhilfe steuerte.

Kritik

Wie der Originaltitel bereits unverhohlen preisgibt, basiert "Precious: Based on the Novel Push by Sapphire" auf dem Roman "Push" von Slam-Poetry-Aushängeschild Ramona "Sapphire" Lofton aus dem Jahre 1996. Die Buchvorlage trägt deutliche autobiographische Züge, hat Sapphire doch vor allem ihre siebenjährige Erfahrungen als Lehrerin in Harlem und der Bronx mit einfließen lassen, als sie, ähnlich wie Ms. Rain in der Verfilmung, Jugendlichen das Lesen und Schreiben beibrachte. Bereits kurz nach der Buchveröffentlichung gab es die ersten Auszeichnungen. Die Verfilmung durch Lee Daniels schlug in dieselbe Kerbe und wurde mit zahlreichen Awards geehrt, darunter zwei Oscars.

Wirklich verwunderlich ist das nicht, die Qualität ist zweifelsohne vorhanden. Was jedoch Jury-Entscheidungen zunehmend beeinflusst, ist eine politisch-sozialkritische Herangehensweise beim nominierten Film und die gute alte Underdog-Story, bei der der Zuschauer den Hauptcharakter auf dem Weg von unten nach oben begleitet. Wie die Vergangenheit gezeigt hat, werden sehr gern derartige Filme ausgezeichnet. "Precious: Based on the Novel Push by Sapphire" erzählt die Geschichte eines übergewichtigen schwarzen Mädchens, das nicht lesen und schreiben kann, hat also alle Voraussetzungen dafür, dass die Jury Toleranz, Weltoffenheit und Selbstkritik beweisen kann. Sowas lässt sie sich normalerweise kaum entgehen. Jedoch stehen zwei Dinge fest, die in diesem Zusammenhang unbedingt erwähnt werden müssen. Zum einen ist "Precious: Based on the Novel Push by Sapphire" so oder so großartig, was natürlich auch mit der Grundthematik zu tun hat, allerdings weiß der Film sehr wohl, die vielversprechende Hülle auch durch Emotionen zu füllen. Zum anderen ist der Film keine Underdog-Story im klassischen Sinne, denn dafür bräuchte es den Aufstieg der Hauptperson von unten nach oben.

Precious jedoch fängt unten an und bleibt dort auch. Viele haben "Precious: Based on the Novel Push by Sapphire" deswegen bereits als Albtraum oder Anti-Märchen bezeichnet, da es keinen Ausweg für Precious zu geben scheint. Dennoch ist auch für den Zuschauer nicht wichtig, ob es am Ende zu einem großen Happy End kommt, weil es darum schlichtweg nicht geht und weil die klischeebehaftete Darstellung des "American Way of Life" gar nicht die derartige Wucht ausüben kann, die den vorliegenden Film so beeindruckend macht. Der Film suhlt sich in seinem eigenen Elend, schockt, macht sprachlos und verletzt regelrecht mit seiner ungeschönten Härte vieler Szenen den Zuschauer, schafft es aber gleichermaßen, in den wenigen triumphalen Momenten auch Hoffnung zu vermitteln, die deutlich tiefgründiger ist als die du-kannst-alles-erreichen-wenn-du-nur-willst-Lebenslüge, die nicht nur in den USA überall gepredigt wird. Diese Momente zeigen eine Perspektive auf ein besseres Leben auf und sind neben einigen auflockernden Traumsequenzen nicht nur für Precious immens wichtig, sondern auch für den Zuschauer. Nicht nur, dass sie für eine kleine Verschnaufpause sorgen in Anbetracht all des gezeigten Leids, sie sorgen zudem dafür, dass die folgenden Szenen durch die Kontrastwirkung umso schwerer wiegen. Wenn Precious sich vorstellt, als sie von ihrer Mutter ausgeknockt wurde, wie es wohl so sein mag als Superstar auf dem roten Teppich, und nur kurze Zeit später von ihrer eigenen Mutter auf das Übelste beschimpft wird (siehe obiges Zitat), dann verfehlt das die Wirkung nicht.

Wieder einmal stellt man sich die Frage, wie ein weitestgehend ungelernter Schauspieler derartige Emotionen schüren kann (jüngstes Beispiel: Katie Jarvis in "Fish Tank"). Hauptdarstellerin Gabourey Sidibe vollbringt diese Meisterleistung nicht nur mit ihren Worten und Taten, sondern zeitweise einfach damit, präsent zu sein, was selbst den fähigsten Schauspielern nur in manchen Filmen gelingt, wo ihnen alles abverlangt wird. Die Nominierungen als beste Hauptdarstellerin in einem Drama für die Golden Globes und die Oscars 2010 beweist glücklicherweise, dass solche bahnbrechenden Performances wie die von Sidibe manchmal tatsächlich bedacht und zumindest schon einmal mit einer Nominierung belohnt werden. Wenn man bedenkt, dass ihre Rolle in "Precious: Based on the Novel Push by Sapphire" wohl die einzige Möglichkeit für sie bleiben wird, einen ernstzunehmenden Award erhalten zu können, da für schwarze und deutlich übergewichtige Frauen nur in allen Jubeljahren interessante Rollen abseits des komischen Sidekicks geschrieben werden, ist es ein wenig schade, dass sie sich am Ende nicht gegen Sandra Bullock durchsetzen konnte.

Etwas anders stellte sich die Situation bei Nebendarstellerin Mo'Nique dar, die Precious' Mutter spielt und in Deutschland leider Gottes vor allem als Gastgeberin des Unterschichten-Realityformats "Flavor of Love Girls: Charm School" bekannt ist. Sie galt vollkommen verdient als Favorit Nummer 1 für die bevorstehenden Awards, wobei einige der Meinung waren, dass sie ihre Chancen, vor allem auf einen Oscar, durch ihre Forderung nach 100.000 US-Dollar Auftrittsgage und ihr anschließendes Fernbleiben bei den New York Film Critics Circle Awards, nachdem ihre Forderung (selbstverständlich) nicht erfüllt wurde, nachhaltig geschmälert hat. Dennoch: Nicht nur ihre gewalttätige, unflätige Art als Personifizierung des täglichen Albtraums von Precious ist allgegenwärtig, Mo'Nique gelingt es sogar in einer eindrucksvollen Szene, den Übergang von höflicher und verständnisvoller Mutter und Großmutter zu einem aggressiven und fluchenden Scheusal in Sekundenschnelle mühelos zu meistern. Dazu kommt, dass das Drehbuch von Geoffrey Fletcher und die Buchvorlage von Sapphire es vermögen, selbst sie mit zusätzlichen Facetten auszustatten, was ihr Wesen keineswegs rechtfertigt, allerdings genug Hintergrundinformationen gibt, um von der üblichen Schwarz-Weiß-Malerei abzurücken. Sie bekam den Oscar schließlich doch.

Für viele überraschend kam mit Sicherheit die Meldung, dass Oscarpreisträgerin Helen Mirren, die ursprünglich als Sozialarbeiterin Mrs. Weiss vorgesehen war und vom Projekt absprang, durch Soul-Diva Mariah Carey ersetzt wurde, insbesondere weil jeder dachte, dass ihre Schauspielkarriere mit ihrer Rolle in einem von Kritikern als schlechtesten Film aller Zeit angesehenen "Glitter" beendet sein dürfte. Doch Carey, die man zunächst optisch gar nicht mal unbedingt erkennt, weiß durch eine zurückhaltende und bodenständige Performance zu überzeugen und ist sogar integraler Bestandteil des wohl herausragendsten Moments des gesamten Films. Lenny Kravitz' Leinwanddebüt als Krankenpfleger fügt sich gut ein, ohne jedoch sonderlich hervorzustechen – was wohlbemerkt aber auch gar nicht beabsichtigt gewesen wäre, denn Regisseur Lee Daniels weiß, dass an Gabourey Sidibe und Mo'Nique ohnehin nichts herankommen kann.

Fazit

"Precious: Based on the Novel Push by Sapphire" wühlt auf, entsetzt und überwältigt. Die emotionale Wucht, die letzten Endes erreicht wird, wird gleichzeitig sowohl aufgelockert durch wenige triumphale Momente und Traumsequenzen als auch verstärkt durch die sich entfaltende Kontrastwirkung. Begleitet von wahrlich herausragenden schauspielerischen Leistungen der zwei wichtigsten weiblichen Rollen ist die Verfilmung des Romans von Sapphire die persönliche Abrechnung mit dem "American Dream", ohne jedoch je gänzlich hoffnungslos zu wirken, was in Anbetracht des gezeigten Geschehens ein Drahtseilakt ist, den nur extrem wenige Filme meistern können. "Precious: Based on the Novel Push by Sapphire" ist einer davon.

Andreas K. - myFanbase
24.12.2009

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