Bewertung

Review: #6.04 Hier ist nicht hier

Foto: Lennie James & John Carroll Lynch, The Walking Dead - Copyright: Gene Page/AMC
Lennie James & John Carroll Lynch, The Walking Dead
© Gene Page/AMC

Der Cliffhanger der letzten Episode wird noch etwas in die Länge gezogen und die Zuschauer dürfen weiterhin darüber diskutieren, ob man nun Glenns Gedärme gesehen hat oder ob es vielleicht doch erst einmal nur Nicholas gewesen ist, den man da auseinander genommen hat. Stattdessen konzentriert man sich auf Morgan und versucht die Frage zu beantworten, wie er von dem verrückten Mann in #3.12 Gesichter der Toten zu dem Mann wurde, der nun in Alexandria weilt.

"I have come to believe, all life is precious."

Es ist gewagt, gerade an dieser Stelle eine Flashbackepisode einzubringen und manch einer möge die überlange Folge auch als verschwendete Zeit ansehen, da man sich von der eigentlichen Storyline der Staffel so weit weg bewegt, doch dank der perfekten Chemie zwischen Lennie James und John Carroll Lynch avanciert die Episode zu einer tollen Charakterstudie eines Mannes, der es geschafft hat, aus der selbstgewählten Einsamkeit zu entfliehen, in der nichts für ihn mehr zählte, als möglichst viele Zombies aus dem Weg zu räumen. Der Tod seiner Frau Jenny und seines Sohnes Duane quälten ihn und brachten ihn an den Rand seines Verstandes, so dass es fast ein Wunder war, ihn zu Beginn der 5. Staffel bei klarem Verstand zu sehen.

Die Folge zeigt, wie es zu dieser am Ende lebenserhaltenden Verwandlung von Morgan kam und ist dabei eigentlich erst einmal nichts besonderes, weil ähnliche Geschichten zuhauf auch in anderen Medien, ob Film, Fernsehen oder Literatur bereits existieren: ein Mann trifft auf jemand, der eine ähnliche Erfahrung gemacht hat, jedoch bereits einen Schritt weiter ist und erkannt hat, dass sein Verhalten nicht zu einer Besserung seiner Situation geführt hat. Morgan ist in diesem Fall der Novize, der einen Meister (Eastman) trifft, der nicht nur mehr weiß als ehr, sondern auch mit einer stoischen Geduld sich seiner annimmt, auch wenn Morgan sich zu Beginn wehrt und ihn mehrfach auffordert, ihn einfach zu töten, um sein Leid endlich zu lindern. Mit der Zeit jedoch öffnet Morgan sich seinem neuen Mentor, akzeptiert seine Hilfe und findet neuen Sinn im Leben. Dass Eastman am Ende sein Leben lassen muss, ist fast schon obligatorisch.

Die Begegnung der beiden Männer wirkt niemals aufgesetzt oder gezwungen, sondern evolviert langsam und behutsam. Eastman verliert nie die Geduld mit Morgan, gibt ihm Zeit und Raum, sich zu öffnen und mit sich ins Reine zu kommen. Er nimmt es mit seiner Wut und seinem Zorn auf die Welt auf, stellt sich ihm und macht ihm klar, dass er nur zwei Möglichkeiten hat: er verlässt das Haus oder er bleibt bei ihm und akzeptiert seine Art zu leben. Morgan, der zunächst nicht anders kann, stürzt sich auf Eastman, bereit ihn zu töten. Zum ersten Mal trifft er auf Gegenwehr, die jedoch nicht darauf abzielt, ihm das Leben zu nehmen, sondern ihn dazu zu bringen, über sein Handel nachzugeben. "I will not allow you to kill me" – diese Aussage wird auch später zu Morgans wichtigstem Credo.

Nachdem Morgans erste Wut sich gelegt hat und er sich tatsächlich die Zeit nimmt, Eastman und seine Geschichte kennen zu lernen, da scheint sich in ihm etwas zu verändern. Er lässt sich Aikido beibringen und die Kunst des Umlenkens. Er lernt, wie er sich verteidigen kann, ohne selbst töten zu müssen. Doch erst als Eastman ihm die Geschichte eines Mannes erzählt, den er als forensischer Psychiater nicht retten konnte und der aus reiner Boshaftigkeit losgezogen ist, um Eastmanns Familie zu massakrieren, da erkennt er, welch großen Schritt Eastman bereits vollzogen hat.

Es überrascht nicht, dass der so friedliebende Eastman ebenfalls eine tragische Hintergrundgeschichte hat. Er war nicht immer so ruhig und gelassen, sondern wollte Rache an dem Mann nehmen, der seine Familie auf dem gewissen hatte. Er kidnappte ihn, sperrte ihn in den Käfig, in den er auch Morgan brachte, als er zufällig über das Grundstück stolperte. Er sah dabei zu, wie der Mann binnen 47 Tagen verhungerte, was ihm jedoch nicht das erwünschte Hochgefühl verschaffte, das er sich für seine Rache erhoffte. Es war genau dieser Zeitpunkt, an dem er erkannte, dass Leben zu nehmen nicht kompensiert, ein Leben zu verlieren. Jedes Leben ist kostbar, genau dieser Satz prägt sich am Ende eben auch Morgan ein und nachdem sich Eastman für Morgan geopfert hat, als er kurz in alte Ängste zurückzufallen droht, übernimmt er dessen Einstellung und macht sich auf die Suche nach anderen Menschen. Wie für "The Walking Dead" typisch stirbt ein Mann mit positiver Grundeinstellung am Ende, weil es in der Welt, so wie sie mittlerweile ist niemand mehr ein Happy End erwarten kann, der sich falsche Hoffnung auf eventuelle Verbesserung der Situation macht.

Es ist sicher keine bahnbrechende Geschichte die hier erzählt wird, aber sie wird mit Ruhe und Geduld erzählt und erklärt am Ende, warum Morgan in Alexandria so handelt, wie er handelt. Wieder zurück in der Gegenwart erkennt der Zuschauer, dass der Wolf, den er in #6.02 Kämpfer vermeintlich getötet hat, noch am Leben ist und von ihm in einem Raum gefangen gehalten wird, in der Hoffnung, Morgan könnte so zu ihm durchdringen, wie Eastman es damals bei ihm geschafft hat. Dass er jedoch einen Menschen vor sich hat, der eine andere Lebenseinstellung hat, das scheint auch Morgan zu erkennen, denn nachdem er ihn zurücklässt, verriegelt er beim hinausgehen die Tür zu seinem Verlies im Haus – Eastman hatte die Tür zu seinem Käfig stets offen gelassen. Nicht jedes übel lässt sich beseitigen und ich befürchte, dass Morgans noble Versuche, den Mann vor sich selbst zu retten, genauso so enden könnte, wie Eastmans Versuch, den späteren Mörder seiner Familie zu retten. Manchmal sind Menschen einfach von Grund auf böse….

Fazit

Die Episode zu bewerten fällt im Kontext der sechsten Staffel etwas schwer. Natürlich ärgert man sich als Zuschauer, dass man nicht erfährt, ob Glenn vielleicht doch noch irgendwie am Leben ist. Man ärgert sich, dass die Autoren so abrupt auf die Bremse treten und die spannende Handlung der letzten Episoden erst einmal aufs Nebengleis verfrachten, um sich einem Charakter und einem Flashback zu widmen, von dem man eigentlich nie wirklich Spannung erwarten konnte, denn man wusste bereits zuvor, dass Morgan am Ende in Alexandria landen wird. Und dennoch ist die Episode eine starke Charakterstudie, die berührt und effektvoll darstellt, dass es einen Weg jenseits von Ricks Brutalität und Einstellung geben kann. Morgan ist ein faszinierender Charakter, der die Serie bereichert und daher bereue ich keine Sekunde, die wir in dieser Folge mit ihm verbringen durften.

Melanie Wolff - myFanbase

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