Bewertung
Interpol

Interpol

Sie hat uns eiskalt erwischt, die Nachricht von Carlos Denglers Ausstieg. Und doch kam sie nicht wirklich überraschend. Denn der langjährige Ausnahmebassist von Interpol hatte nie damit hinterm Berg gehalten, dass er das Tourleben verabscheute und sich vielmehr nach neuen Projekten und musikalischen Herausforderungen sehnte. So kam es, wie es kommen musste. Der Mann hinter den markanten Basslines und subtil-erhabenen Arrangements von Interpol legte beim gleichnamigen vierten Album der Band zum letzten Mal selbst Hand an. Und sich dabei trotzdem – oder gerade deshalb – wieder unheimlich ins Zeug.

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Das Resultat erinnert fast schon ein wenig an einen Junggesellenabschied. Denn nicht nur die unterschwellige Nostalgie, die allen Songs des Albums anhaftet, lässt vermuten, dass die Trennung schon während der Aufnahmen längst beschlossene Sache war, auch die ambitionierten Arrangements klingen so, als ob Carlos D. die Arbeit im Studio nochmal in vollen Zügen genießen, sich mit seinen Kollegen ein letztes Mal so richtig austoben und verausgaben wollte, bevor er dem rastlosen Bandleben endgültig den Rücken zukehrte. Wohlgemerkt mit dem Ziel künstlerischer Unabhängigkeit, nicht dem Hafen der Ehe.

Dabei war Carlos D. nicht der Einzige, der den Drang verspürte, musikalisch auch mal andere Gefilde zu erkunden. Auch Sänger Paul Banks strebte nach "Our Love to Admire", dem dritten, vom Großteil ihrer Fans zu Unrecht eher kritisch aufgenommenen Interpol-Album, nach etwas Neuem, etwas Eigenem. Anstatt der Band aber gleich gänzlich abzuschwören, verwirklichte er seine Interpol-inkompatiblen musikalischen Visionen vielmehr in einem Solo-Album, das er im Sommer 2009 unter dem Pseudonym Julian Plenti veröffentlichte. Ein Schritt, der in vielen anderen Bands nicht selten die endgültige Auflösung nach sich zieht, sorgte im Fall von Interpol für neue Impulse, die sich hörbar im aktuellen Sound der Band niederschlagen.

Denn Paul Banks wirkt auf "Interpol" wie ausgewechselt. Während er mit seiner eindringlichen Stimme auf früheren Alben oft und gerne bloß verhuscht vor sich hin nuschelte, macht er nunmehr einen deutlich selbstbewussteren, ja gar ungewöhnlich extrovertierten Eindruck. Er versteckt sich nicht mehr hinter seinen virtuosen Bandkollegen, sondern singt offensiver, offenherziger und gibt sich dabei noch dazu experimenteller und verspielter denn je. Auch seine sonst so kryptischen Lyrics wirken auf einmal nahezu unangenehm greifbar. Das Unnahbare wich offenbar dem neu gewonnenen Selbstvertrauen. Zumindest lässt der stark in den Vordergrund gemischte Gesang kaum eine andere Erklärung zu. Von Hemmungen, sich auch mal von seiner verletzlichen Seite zu zeigen und Gefühlen wie Eifersucht, Trauer, Wut und Verzweiflung freien Lauf zu lassen, ist auf dem Album jedenfalls weit und breit keine Spur.

Tiefe Spuren hinterlässt dagegen wieder einmal Daniel Kessler mit seinem unverkennbaren Gitarrenspiel, sei es nun im Falsett-verzierten Opener "Success", dem zum Schluss hin regelrecht herzzerreißenden "Memory Serves" oder auch dem schwelgerisch anmutenden "Safe Without". Keines seiner grandiosen Riffs vermag sich jedoch so sehr in Herz und Hirn zu brennen wie jene aus "Lights". Die Vorabsingle, die samt höchst kuriosem Video bereits lange vor Album-Release veröffentlicht wurde, wirkt auf den ersten Horcher noch recht unspektakulär. Mit etwas Zeit, Aufmerksamkeit und Kopfhörern auf den Ohren entpuppt sich dieser scheinbar unscheinbare Song irgendwann jedoch als kleines dramaturgisches Meisterwerk, das sich nur ganz langsam und geradezu unbemerkt ans Ohr schleicht, heimlich, still und leise in die Tiefen der Gehörgänge vordringt und erst dort angekommen all seine erhabene und doch gänzlich unpathetische Pracht entfaltet. Spätestens wenn Paul Banks diesem dunkel funkelnden Song-Diamant durch seine so sehnsüchtig vorgetragenen "That's why I hold you"-Zeilen noch den allerletzten Schliff verleiht, bleibt jedenfalls keine Seele unberührt. Klingt hochtrabend, ist aber so.

Generell ist "Interpol" kein Album, das sich einem schon beim ersten Hören erschließt. Die Basslines und Riffs brauchen meist eine Weile, um sich zu setzen, und man selbst etwas Zeit, um sich an den so unerwartet anders klingenden Gesang von Paul Banks zu gewöhnen. Noch dazu fehlt es an Uptempo-Nummern wie "The Heinrich Maneuver" oder "Mammoth" von der letzten Platte. Und so bleibt das Album einfach ein schwerer, ziemlich düster und unzugänglich geratener Brocken, der erstmal verdaut werden muss, bevor er wirklich schmecken kann. Selbst der einzige wirklich peppige Song "Barricade" zündet durch seinen allzu anspringenden Refrain nicht sofort, sondern erst wenn man bei der verwundbar antönenden Bridge und dem absolut genial versetzten und getimeten Harmoniegesang gegen Ende genauer hinhört. Ähnlich grandiosen Momenten begegnet man sowohl im wunderbar chaotischen, von Piano-Loops und Pfeifmelodien getragenen "Try It on", das gegen Ende einen regelrechten Sog entwickelt, der einen völlig mitreißt, als auch im herrlich atmosphärischen Schlusstrack "The Undoing", in dem Paul Banks eine Passage auf Spanisch singt und dadurch einmal mehr zu überraschen weiß auf dem Album. Und hier zumindest auch mal ganz eindeutig: positiv.

Fazit

"I want to stay magical" heißt es in "Summer Well". Und wenn es danach geht, haben Carlos Dengler und seine (Ex-)Kollegen ihre Mission definitiv erfüllt. Denn auch ihr viertes gemeinsames Werk "Interpol" hat so einige magische Momente zu bieten. Es ist das vielleicht rundeste, homogenste Album ihrer Karriere mit den sicherlich am bezauberndsten arrangierten Passagen subtilen mehrstimmigen Gesangs. Und dennoch wird man den Eindruck nicht los, das irgendetwas fehlt. Der letzte Kick durch einen Tanzflächen-Kracher wie "Slow Hands"? Die ultimative Gänsehaut durch ein so zeitloses Wunderwerk wie "Pioneer to the Falls"? Letztendlich ist es vielleicht einfach bloß das Wissen um Carlos Denglers Ausstieg aus der Band, das bedingungslosen Hörgenuss und somit auch die Höchstwertung hier verhindert. Ganz, ganz knapp.

Anspieltipps

Lights

Try It on

The Undoing

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InterpolNYC.com

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Tracks

1.Success
2.Memory Serves
3.Summer Well
4.Lights
5.Barricade
6.Always Malaise (The Man I Am)
7.Safe Without
8.Try It on
9.All of the Ways
10.The Undoing

Paulina Banaszek - myFanbase
23.10.2010

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