Bewertung
Lerner, Ben

22:04

"…das ich […] für Sie, an Sie, genau am Rande der Fiktion geschrieben habe."

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Inhalt

Ben ist 33 und hat mit den Hürden des Alltags zu kämpfen: Seine beste Freundin Alex möchte in Ermangelung eines geeigneten Partners ein Kind von ihm (durch Samenspende versteht sich, alles andere wäre ihr zufolge "bizarr"), mit dem kleinen Roberto, einem Einwanderkind ohne papeles, arbeitet er an einem Büchlein über Dinosaurier und mitunter verwechselt er auf Partys Kokain mit Ketamin. Zu der Hiobsbotschaft, dass seine Halsschlagader bedingt durch eine Erbkrankheit Gefahr läuft, jederzeit zu reißen, gesellt sich die gute Nachricht, dass er einen sechsstelligen Vorschuss für einen Roman bekommt, der auf seiner Kurzgeschichte aus dem New Yorker basieren soll. Dieser Roman, stellt sich bald heraus, ist "22:04".

Kritik

Der Brontosaurus, so lernen wir zu Beginn des Romans, ist ein Irrtum der Wissenschaft: Da wurde ein falscher Kopf auf das falsche Skelett gesetzt und schon war die neue Dinosaurierart kreiert, die eigentlich nur ein Apatosaurus war. Zusammen mit der Degradierung des einstigen Planeten Pluto zum Zwergplaneten stellt die Tatsache, dass der Brontosaurus (vermeintlich) nie existierte, eine Zäsur im Leben von Ben dar.

Ben, das ist der Protagonist aus "22:04", Ben, das ist Ben Lerner selbst, Ben, das ist nicht Ben Lerner. Wer ist Ben? Trotz unzähliger Übereinstimmungen mit Ben Lerners Leben ist Ben nicht Ben Lerner. Lerner spielt mit der Realität, führt den Leser bewusst auf falsche Fährten und beschreibt zugleich die Entstehung des Romans mit der Entstehung des Romans: Die Geschichte aus dem New Yorker, die zum Verfassen von "22:04" führte, ist vollständig abgedruckt. Anhand dieser Kurzgeschichte und der Geschichte aus dem Leben Bens (dem Protagonisten) kann durchaus die Lebensgeschichte Ben Lerners (dem Schriftsteller) abgeleitet werden. Alles ist wahr und doch erfunden. Klingt kompliziert, ist es aber nicht. Der spielerische Authentizitätscharakter des Romans wird durch mehrere Fotos, seien sie aus der Challenger, aus dem Film "Zurück in die Zukunft" (auf dem übrigens auch der Titel des Romans basiert) oder von Kunstobjekten, weiter betont. Trotzdem sollte sich der Leser nicht hinters Licht führen lassen: Was real ist und was nicht, das bleibt offen. Und das soll ja auch so sein, denn Fiktion ist am Ende Fiktion.

"22:04" ist ein eigenwilliger Roman, der sich seiner selbst bewusst ist und sich mit Vorliebe auch auf sich selbst bezieht. Ben Lerner nimmt sich und mit sich all die Brooklyner Caffè-Latte-Trinker und im Café am MacBook arbeitende Hipster auf die Schippe. Doch ist "22:04" nicht reine Satire, sondern ein ausgefeilter Roman von einem, der sein Handwerk versteht, der die großen Themen unserer Zeit, die latente Unsicherheit, die die meisten begleitet, drohende Umweltkatastrophen und die Suche nach einem Platz in dieser Welt, geschickt in diesen scheinbar leichtfüßig erzählten Roman einbindet.

Trotz der vielen Anspielung und trotz der Tatsache, dass es in dem Roman um alles oder nichts geht, ist "22:04" ein äußerst lesenswerter Roman – oder gerade deswegen. Ben (der Protagonist) ist ein äußerst angenehmer Charakter – obgleich mit existenziellen Ängsten und der zynischen Zurückweisung der eigenen Ängste ausgestattet –, mit dem man während des Lesens gerne die Zeit verbringt. Sein Leben ist nie so skurril, als dass sich der Leser nicht doch in seine Geschichte hineinversetzen könnte. Der wohl relevanteste Handlungsstrang ist entsprechend die sehr greifbare Freundschaft mit Alex. Ben und Alex führen eine Beziehung, die intim und distanziert zugleich sind: Über wichtige Themen reden die beiden bei ihren Spaziergängen, solange sie nicht gezwungen sind, sich in die Augen schauen. Und dass die beziehungslose Frau mit Kinderwunsch früher oder später ihren besten Freund fragt, scheint logisch. Körperlicher Kontakt wird aber auf ein Minimum beschränkt. Als Ben bei Alex übernachtet, weil New York ein Supersturm mit Überschwemmungen und Stromausfällen droht, muss er sich Mut antrinken. Aber neben seinen flüchtigen Beziehungen und fernen Freunden ist sie die Konstante, die bleibt.

Ben Lerners "22:04" erzählt von einer Welt, die sich stets weiterentwickelt, und von einem Protagonisten, der diese Welt für sich beständig neu ordnen muss. Aber auch die echte Welt, die Realität außerhalb des Romans, bleibt nicht stehen: Im Jahr 2015 wurde der Brontosaurus rehabilitiert und als eigene Spezies klassifiziert. Nur Pluto ist nach wie vor ein Zwergplanet.

Fazit

Mit seinem zweiten Roman, der zugleich Kunst, Literatur, skurrile Alltagsmomente, philosophische Gedanken und das Leben in New York beschreibt, beweist Ben Lerner, dass er zu Recht zu den interessantesten zeitgenössischen Schriftstellern der USA gehört. Der selbstironische Blick und das Spiel mit Realität und Fiktion machen "22:04" zu einem lesenswerten und gewitzten Meta-Roman, in dem, getreu dem von Walter Benjamin vorangestellten Motto, alles wie hier ist – "nur ein klein wenig anders".

Isabella Caldart - myFanbase
01.03.2016

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