Bewertung
Kuttner, Sarah

180 Grad Meer

"Ich bin eine Prostituierte der menschlichen Emotionen."

Foto: Copyright: S. Fischer Verlag GmbH
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Inhalt

Nachdem ihr Freund erfährt, dass Jule ihn betrogen hat, flüchtet sie zu ihrem kleinen Bruder Jakob nach London. Ihm war sie immer Vater und Mutter zugleich – denn der Vater ist abgehauen, die Mutter am Rande des Wahnsinns.

Jule irrt orientierungslos durchs Leben. Für sie ist nicht der Weg das Ziel, Jule ist vielmehr der "Weg ohne Ziel". Der Leistungsdruck, den der Vater schon in der Kindheit auf sie ausübte, ist nicht unschuldig an Jules sich allem verweigernden Zustand. Als Jakob ihr mitteilt, dass ihr Vater, der in der Nähe der englischen Küste lebt, an Krebs erkrankt ist, hadert sie mit sich, ob sie ihn besuchen soll. Zunächst gewinnt der Wunsch, am Meer zu sein, solange es grau und trist ist. Nichts weiter.

Kritik

Sarah Kuttner führt ihre Frauen gerne kurz ein, um sie dann in die Vergangenheit zurückzuwerfen. Karo aus dem Debüt "Mängelexemplar" und Luise aus "Wachstumsschmerz" haben zudem Probleme, die sie miteinander verbinden. Die hat Juliane, kurz Jule, auch. Hauptsächlich allerdings hat sie Wut im Bauch. In "180 Grad Meer" wird sie als "zahnfarbene Persönlichkeit", quasi ein bisschen unangenehm, vorgestellt. Doch es geht nicht zurück in die Vergangenheit, um ihre Geschichte aufzuarbeiten, noch nicht gleich. Denn zunächst geht es in eine Bar. Jule ist Soulsängerin ("Wir spielen die beschissensten Songs der Achtziger, der Neunziger und das Beschissenste von heute") und nach ihrer Show "fickt" sie ihren Chef Andreas leidenschaftslos.

Zuhause wartet ihr Freund Tim auf sie. Er durchschaut, was sie unter ihren dicken Locken versteckt, und baut der recht großen Jule eine Höhle mit seinem eigenen Körper. Und dennoch will sie dort drin nicht sagen, was sie auf dem Herzen hat. Mehrfach hat ihre Mutter Monika versucht, sich umzubringen, mit ihr an der Hand – und an der Trennung der Eltern ist sie vermutlich auch noch schuld, da ihr Kindermund einst Michaels Fremdgehen verriet.

Exilgrund ist ihr fehlender Redebedarf natürlich nicht, aber in Gegenwart ihres Bruders Jakob lockert sie sich ein wenig. Sie beginnt zu hinterfragen, was für sie zuvor nur "[e]ine Welt, in der jeder eine Maske aufhat und Aufmerksamkeit will" war.

Sarah Kuttner bannt den Leser wie immer mit der von ihr erschaffenen, schweren Atmosphäre, gespickt mit einer Wortwahl, die jeden Wortliebhaber wuschig macht: "Als ob Jakob nur in London Sinn ergibt". Die Beschreibungen von London sind absolut präzise – die Autorin und Moderatorin hat in ihrer Jugend dort ein "Spiegel"-Praktikum absolviert. Das einführende Tocotronic-Zitat ist obendrauf "180 Grad Meer" in einer Nussschale: "das eigene Sein und Ändern". Das ist alles schwierig, schleichend. Aber man folgt Jule gerne zu den zerstörten Meeresbrücken hinab.

Fazit

"Wirst du da nicht depressiv beim Lesen?" wird man gefragt, in den Medien vor der Hauptfigur gewarnt, die man so gar nicht mögen kann. Nein – und doch. Jule ist authentisch, sie versteckt diese Momente, die jeder mal stärker, mal schwächer hat, nicht.

Kurz vor der Veröffentlichung sammelte Sarah Kuttner auch nicht ganz ohne Grund unter dem Hashtag #cooleHundelesen180GradMeer private Hundebilder. Denn Hunde machen die amüsantesten Momente in "180 Grad Meer" aus. Und so heißt es auf den letzten Seiten, die man mit echten Tränchen überströmt liest: "Ich denke, ich hätte das alles in Kauf genommen. Für mich, für die anderen."

Simone Bauer - myFanbase
05.01.2016

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