Bewertung
Marc Pierschel, Michael Kirchner

Edge – Perspectives On Drug Free Culture

"I had a lot better things to do than waste my time, getting messed up."

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Inhalt

Als Anfang der 80er Jahre die vergleichsweise kurzlebige US-amerikanische Hardcore-Band Minor Threat einen Song namens "Straight Edge" veröffentlichte, konnte sie nicht ahnen, dass sie damit den Anstoß gab für eine Gegenkultur unter demselben Namen, die sich weltweit ausbreiten sollte. Lediglich als persönliches Statement gegen den "No Future"-Nihilismus in der Hardcore- und vor allem Punk-Szene gedacht, wurde die Abstinenz von Alkohol, Tabak und anderen Drogen sowie der Abkehr von Promiskuität für viele zu einer Alternative in einer Gesellschaft, in der der Konsum von schädlichen Substanzen vollkommen normal geworden ist. "Edge – Perspectives On Drug Free Culture" stellt dieses Subkulturphänomen vor und geht der Frage nach, wie die damaligen Galionsfiguren heute darüber denken, welchen Einfluss Straight Edge noch heute hat und was sich seitdem geändert hat.

Kritik

Alle Jahre wieder entdecken die Mainstream-Medien die Faszination von vermeintlich harten Kerlen, die keinen Alkohol trinken, nicht rauchen, keine sonstigen Drogen zu sich nehmen und bedeutungslosen Sex ablehnen. So kann es schon mal vorkommen, dass es in der "Bravo" als "neuer Trend" und als "der cleane Kult" angekündigt wird, "mit dem Geheimzeichen X". Oder die "Bild" berichtet von sogenannten "straight edge" und "vegans", zwei rivalisierenden Gruppen, die sich mit alten Salatköpfen und Pfeffer bekriegen würden. Alles schon da gewesen. Manchmal kommt es sogar zu einer seriösen Aufarbeitung eines mittlerweile fast 30-jährigen Phänomens. Im Mainstream angekommen ist die Thematik aber bis heute nicht. Der Großteil der Bevölkerung hat entweder noch nie von Straight Edge gehört oder ein völlig falsches Verständnis davon.

Die beiden Soziologen Michael Kirchner und Marc Pierschel haben mit ihrer ersten Dokumentation in Spielfilmlänge daher versucht, sowohl den Begriff zu umreißen als auch die zahlreichen unterschiedlichen persönlichen Erweiterungen und Umdeutungen vorzustellen. Dazu haben sie Leute zu Wort kommen lassen, die maßgeblich daran beteiligt waren, den Begriff Straight Edge zu prägen und nach außen zu transportieren, allen voran Ian MacKaye, damals Sänger der Band Minor Threat, der den Song "Straight Edge" schrieb und damit eine Welle los trat, die er nie für möglich gehalten hätte. Dazu gesellt sich unter anderem Raghunath aka Ray Cappo, Mitte der 80er Jahre Sänger von Youth Of Today, der die Ideale von Straight Edge einem noch breiteren Publikum bekannt machte und immensen Einfluss auf die weitere Entwicklung hatte. Ein weiterer Interviewpartner ist Karl Buechner. Dessen ehemalige Band Earth Crisis war eine der ersten, die Hardcore und Metal stilistisch miteinander verbanden und damit den Grundsein legten für das, was heutzutage unter "New School Hardcore" bekannt ist. Wofür Buechner und Earth Crisis leider jedoch noch berühmter sind, ist die radikale Auslegung von Straight Edge inklusive einiger Ergänzungen, wie unter anderem Tierschutz. Viele militante Edger beriefen sich darauf und sorgten immer wieder dafür, dass Straight Edge vor allem deswegen in die Medien kommt.

Straight Edge mit Tierschutz, Umweltbewusstsein, Feminismus, einer antikapitalistischen Haltung, der Befürwortung für mehr Homosexuellenrechte und einigen anderen Aspekten zu verbinden, zeigt die Vielfalt innerhalb der Szene auf, die zur Gänze gar nicht um- und beschrieben werden kann. Dennoch versucht der Film, diese Aspekte soweit möglich anzureißen, wohl in dem Wissen, dass selbst ein intensives Studium nie einen ganzheitlichen Überblick über alle Facetten von Straight Edge geben kann. Entsprechend werden auch eine Sängerin einer Hardcoreband interviewt, die über die teils chauvinistische Eigenart der Hardcore-Szene spricht, ein Tierrechtsaktivist, der deswegen zwei Jahre im Gefängnis war oder ein ehemaliger Kolumnist und Herausgeber eines einflussreichen Magazins und nun Inhaber einer unabhängigen Plattenfirma. Mit letzterem findet damit auch der ureigene D.I.Y. (Do It Yourself) Aspekt des Hardcore Beachtung.

Aus inhaltlicher Sicht kann man dem Film daher keine Vorwürfe machen, im Gegenteil. Der Facettenreichtum, der angeschnitten wird, hebt sich wohlwollend von ähnlichen Formaten ab. Selbst der Jugendliche, der aus rechtlichen Gründen noch gar keinen Alkohol oder Tabak konsumieren darf, kommt zu Wort. Bereits an anderer Stelle wird erwähnt, wie viele Edger in dem Moment, in dem sie aufs College gehen und weitestgehend unabhängig sind, nichts mehr von dem wissen möchten, was sie zuvor lauthals als lebenslanges Bekenntnis zur Abstinenz deklarierten. Viel interessanter jedoch ist das, was Ian MacKaye, Ray Cappo und Russ Rankin, ehemaliger Sänger der angesagten Hardcore-Punk-Band Good Riddance, zum heutigen Zustand der Hardcore- und der Straight-Edge-Szene zu sagen haben. Schnell entwickelte sich ein Kult um die einzelnen Personen, sodass MacKaye auch heute noch täglich von Kids die Frage gestellt bekommt, ob er denn noch Straight Edge sei. Die persönliche Einstellung MacKayes wurde hochstilisiert zu einem Dogma und einem festgelegten Regelkatalog, der von Anhängern, die das Ganze allzu wörtlich auslegen, dann auch mal gegen die einstigen Idole angewandt wird. Diese Intoleranz in einer Szene, die sich Toleranz für jegliche Form von Andersartigkeit auf die Fahnen geschrieben hat, verleitet Rankin schließlich sogar zu der Aussage, dass er nicht wüsste, ob ihn das alles heute noch genauso anziehen würde wie damals – und dass ihm das Angst mache.

Um auch Neulingen, die mit der ganzen Thematik wenig bis gar nicht vertraut sind, einen Einstieg zu verschaffen, haben sich Kirchner und Pierschel gegen einen Erzähler und für das Einblenden von Wikipedia-Artikeln oder Fotos aus MySpace entschieden. Diese Intermezzi stellen bestimmte Begriffe und Personen vor, die danach durch Interviews näher beleuchtet werden. Dadurch geht zwar ein wenig der Erzählfluss verloren, andererseits bestand kaum eine andere Möglichkeit, all die Informationen in der kurzen Spielzeit unterzubringen, ohne diese durch ellenlange Erzählpassagen auszudehnen. Dazu kommt, dass natürlich am Ende nie alle Aspekte mit der entsprechenden Ausführlichkeit abgehandelt werden können. Insbesondere eine Sicht auf die religiöse Erweiterung von Straight Edge vor dem Hintergrund, dass einige Edger vor allem zum Hare Krishna Glauben konvertierten (unter ihnen auch Ray "Raghunath" Cappo), wäre jedoch interessant gewesen. Auch ist es schade, dass es die Passage rund um Hardline mit Sean Muttaqi, also demjenigen, der den Begriff prägte, nicht in den Film schaffte. In den DVD-Extras kann man sich aber glücklicherweise ein Bild davon verschaffen, wofür Muttaqi und dessen sehr kontroverse Band Vegan Reich standen bzw. stehen, was nochmal einen hochinteressanten Aspekt in das Ganze hineinbringt. Ganz allgemein ist das ausführliche Extra-Material auf der DVD sehr zu empfehlen.

Fazit

Einen vergleichsweise kurzen und dennoch informativen Film zu drehen, der nahezu alle Aspekte anreißt, die einen in diesem Zusammenhang interessieren, ist nicht einfach. Insbesondere nach den vielen schlecht recherchierten Straight-Edge-Artikeln, Fernsehbeiträgen und ähnlichem ist es wirklich schön, endlich mal eine ambitionierte Übersicht über ein schier unerschöpfliches Themengebiet zu erhalten. Wer weiß, vielleicht werden sich ja manche den Film ansehen und, wenn es in ein paar Jahren wieder soweit ist, dass man in den Mainstream-Medien über Straight Edge berichtet, ein Beispiel daran nehmen. Eine ausgewogene Berichterstattung hat eine Subkultur, die sich dem allgemeinen Konsens widersetzt, dass Alkohol oder Tabak hilft, uns zu entspannen, Spaß zu haben, Problemen zu entkommen und cool zu sein, zumindest verdient.

Andreas K. - myFanbase
10.08.2010

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